Dienstag, 21. August 2018

Die Krim-Bar

Einmal war ich schon da, mit Freunden aus Polen. Sie liegt in einer Seitenstraße, unweit von meiner Wohnung. Weil es nur Wein gab, wollte einer der Freunde nicht bleiben. Seit er nicht mehr trinkt, ist ihm das Angebot an Wasser und allerlei Getränken wichtig.

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Ich ging nochmal hin, diesmal mit Marie. Uns behagte die Bar sehr. Sie ist klein, etwas dunkel; die Wand hinter der Theke scheint mit Fässern tapeziert zu sein. Wir setzten uns auf Hocker an einen runden Tisch und bestellten Wein, dessen Name uns fremd war.

Die Unterhaltung mit Marie, einer jungen Schriftstellerin aus Berlin, die ein Schreibstipendium in Lwiw bekommen hat, war kurzweilig. Ebenso auch der Blick auf das anwesende Publikum. Das bestand aus einem riesigen und etwas unförmigen Mann, der wie aus den Seiten eins Märchenbuchs herausgetreten schien, aus einem tätowierten Mann mit modischer Frisur und umgehängter Tasche und aus einer Art Troubadour, mit einem Laptop anstatt eines Musikinstrumentes. Dazu kam noch ein junger Barkeeper, der mit einem Computer – oder war es ein Telefon? – hinter der Theke beschäftig war. Aus der lockeren bis gleichgültigen Atmosphäre war anzunehmen, dass dieses Publikum sich öfter hier aufhielt. Obwohl wir nicht zu dieser Gesellschaft gehörten, konnten wir ohne Probleme dort trinken*.

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In der Bar war ein Kommen und Gehen. Der Riese ging hinaus, um später zurückzukommen. Und das mehrmals. Die Türschwelle war eigentlich keine: Draußen waren die gleichen Tische und Stühle auf dem Bürgersteig aufgestellt worden wie im Inneren. Zusammen mit einem Bekannten genoss der Tätowierte die Lektüre seines Smartphones, bevor er verschwand und nach einer gewissen Zeit wiederauftauchte. Der Barkeeper riss sich manchmal von seinem Gerät los, um nach hinten, in eine Art Küche zu gehen. Bisweilen kam ein Kunde und ließ sich eine mitgebrachte Flasche abfüllen, sozusagen „wine to go.“

Ich weiß nicht, wie lange wir schon in der Bar waren. Nicht nur der Raum, auch die Zeit ließ sich schwer einschätzen. Vielleicht wird sie in Bestellungen gemessen? Wir entschieden uns, ein zweites Glas zu bestellen. Marie hatte mir ihren Roman gebracht. Wir sprachen über Lesungen, Literatur, Sprachen – auf Deutsch. Ich konnte sehen, wie neugierig der Troubadour mit Laptop wurde. Auf dem Weg zurück von der Theke gesellte er sich kurz zu uns. Er erzählte, dass er aus Jalta sei und hier im Exil lebe. Jalta! Das Wort rief auf einmal eine Reihe von Bildern hervor: die Schule, das bekannte Foto von Churchill, Roosevelt, Stalin auf der Krim, die neue Weltordnung, meinen einstigen Geschichtslehrer.

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Marie hat ein unglaubliches Auge für Alltagsdetails, die eine Menge Bilder hervorrufen. Die Lektüre ihres Romans verstärkt diesen Eindruck**. Das Erbrochene von Katzen, Stücke von Nagellack, Fussel, die sich zu Bällen formieren, ein Autositz aus Holzkügelchen lassen einen nicht los. Sie sind materielles Gedächtnis, die sowohl an weltgeschichtliche wie persönliche Ereignisse erinnern. Zugleich deuten sie auf die Gleichzeitigkeit von Handlungen und „trivialen“ Gedanken hin. An dem Abend war es nicht anders. Parallel zu der Unterhaltung über Erfahrungen im Ausland und das Schreiben gab es lauter kleine Rätsel, die mich – uns? – beschäftigten: Das Trinken von Kognak und Café, von Wein und Kognak – es gibt eben doch nicht nur Wein in der Bar –, die mysteriösen Geräusche und stummen Gespräche aus einem hinteren Raum.

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Es wurde spät, oder doch nicht so spät? Ich weiß es nicht. Ein drittes Glas bestellten wir auf jeden Fall nicht mehr. Beim Hinausgehen bemerkte ich den Namen der Bar: Вина Криму, Weine von der Krim. Wenn meine Polnischen Freunde den Namen gesehen hätten, hätten sie sicher bleiben wollen. Sie finden, wie viele meiner Bekannten hier, die Krim doch so hip und unterstützen gerne die aus ihr geflüchteten oder vertriebenen Menschen. In die Bar werde ich wiederkommen, zu einem letzten Drink vor meiner Rückkehr nach Montréal, mit Marie und meinen hiesigen Kollegen. (Klaus vom Kulturforum östliches Europa in Potsdam würde ich einladen, wenn er nicht so weit wäre!) Und wenn wir ein schlechtes Gewissen beim Trinken bekommen, können wir uns sagen, dass wir eine kleine Geste für die Krim tun.



** Gamillscheg, Marie (2018). Alles was glänzt. München, Luchterhand.

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