Dienstag, 6. November 2018

Das gewünschte Ende der Ambivalenzen

Bei einem Politikseminar in einer westukrainischen Stadt im Frühling 2018 lernte sie Julius, einen Fachkollegen aus dem Ruhrgebiet, kennen. Zusammen gingen sie abends in ein vom Reiseführer gelobtes Kaffeehaus am Marktplatz, dem Rynok. Dort erzählte er ihr über seine trotz-des-Debakels-traditionsgemäße-Treue zur SPD, die unabhängige Ukraine, den Rechtsstaat, die politische Lage Deutschlands. Während sie ihm zuhörte, schaute sie sich etwas um. Am Nachbartisch saßen zwei Männer in einem Alter, das man wohl als mittleres bezeichnen würde. Sie sprachen Deutsch und waren so vermutete sie aufgrund ihrer Freizeitkleidung und ihres allgemeinen Auftretens Polizisten im Urlaub. Sie tauschten erst Blicke und dann einige Worter aus, aus denen sich sehr schnell ergab, dass die Männer die AfD großartig finden, Sarah Wagenknecht und Russland ebenso und außerdem eine Rückkehr zur D-Mark wünschen.

Nachdem Julius sich auf den Weg zum Flughafen gemacht hatte, rückte sie ihren Stuhl zum Nachbarstisch und gesellte sie sich zu Bernd und Matthias, wie die beiden hießen. Schnell erfuhr sie, dass sie aus einem ostdeutschen Bundesland kommen, sie sagten aber dazu, sie seien „Schlesier.“ Polizisten waren sie zwar nicht, aber gegen Uniform hatten sie nichts einzuwenden. Die beiden waren Facharbeiter mit eigenem Betrieb, nun sportlich unterwegs. Auch sie hatten das Ratespiel von gelangweilten Touristen, Hobby-Soziologen und Stammgästen in Dorfkneipen mitgemacht. Sie hatte zum Nachbarstisch geschielt und sich gewundert, was sie „mit dem Genossen, der so viel labert und nicht für sie bezahlt“ – was sie als eine Unverschämtheit betrachteten – wohl täte.

Obwohl die Gesellschaft und das Getränk – vom Wein auf Bier – gewechselt hatten, tat sie weiterhin das Gleiche: Sie hörte zu. Allem Anschein nach gefiel den Männern ihre Aufmerksamkeit, das Interesse an Ostdeutschland und die Möglichkeit, eine Frau aus dem Ausland zu belehren. Und sie? Sie hatte Zeit und war neugierig.

- „Haben Sie sich die Beiträge der AfD im Bundestag angeschaut? Sie sind richtig gut“, legte Bernd, der Ältere, los.

- „Nein, ich lese nur die Zeitung. Ich...“ fing sie an.

- „Die Zeitung lese ich nicht, oder nur den Lokalteil“, unterbrach er sie.

Auch die zwei Männer erzählten viel: Dass die Ostdeutschen kritischer als die Westdeutschen seien, dass sie viel arbeiteten; auch über persönliche Erfahrungen und die Macht der USA. Ein Bier wollte man trinken und noch einen Moment beisammensitzen.

- „Wo stehen Sie politisch?“, fragte Bernd später.

- „Ich? Ich bin eher Beobachterin. Das ist mein Beruf.“ Vielleicht wollte sie noch etwas sagen, aber dann sagte Matthias, der zweite Mann, versöhnlich:

„Naja, das ist besser als dein Kollege.“

 Пиво, пожалуйста!“ Bernd bestellte eine weitere Runde, woraufhin der leicht irritierte Kellner fragte: „The same?“ Als sie nickte, sagte er: „Vor ein paar Jahren wär’s anders gewesen. Da wurde hier noch Russisch gesprochen.“

- „Ihr Kanadier habt wenig Flüchtlinge aufgenommen. Ihr habt eine vernünftige Einwanderungspolitik“, setzte Bernd die Unterhaltung fort.

- „Ich habe Petitionen unterschrieben, damit man mehr als 35 000 Menschen aufnimmt; und was die Migrationspolitik Kanadas angeht, es ist nicht, wie man denkt. Die meisten Leute...“

 - „Kennst Du die Bilderberg-Gruppe? Schau dir das mal im Internet an...“

Als sie spürte, wie sie aus der Beobachterrolle zu fallen drohte, versuchte sie, das Gespräch von den bekannten Themen wegzulenken .

- „Was habt ihr so für Probleme, konkret, im Alltag bei euch?“
- „Die Probleme sind 25 km entfernt, in der Stadt X. Da geht‘s ab, sage ich dir. Ich habe Angst um meine Frau und meine Tochter“, antwortete Matthias.

- „Ich muss sagen, ich bin viel in der Gegend unterwegs gewesen. Ich habe nie Angst gehabt“, erwiderte sie.

- „Das kommt daher, weil du nicht blond bist“, sagte Bernd lapidar. Matthias nickte.

An diesem Punkt kam es ihr so vor, als ob sie alles schon mal gehört hatte: die Ost- und Westdeutschen, die Geflüchteten, die kanadische Einwanderungspolitik, die lauernde Gefahr in der Stadt, auch das mit den blonden Haaren. Es fehlte eigentlich nur noch die Geschichte über den Onkel, der nach Nordamerika ausgewandert ist. Die Begegnung am Rynok kondensierte so sehr, dass sie ihr wie eine Fiktion erschien. Mag sein, dass die fremde Kulisse, der Reiz des Zufalls, jemanden kennenzulernen, den man nie wiedersehen wird, und schließlich die kurze Präsenz des selbstbewussten Fachkollegen aus Westdeutschland diese bestimmte Unterhaltung ermöglichte, womöglich sogar heraufbeschwor.

Es lief ein Spiel, das gerade jetzt in Deutschland Konjunktur hat. Vielleicht wäre es sogar an der Zeit, von einem eigenen Genre zu sprechen. In den Medien – bei Initiativen wie „Deutschland spricht“, in der Presse und Talk-Shows im Fernsehen, in manchen Kirchengemeinden und bei ihrer Arbeit als Soziologin sowieso – werden radikalisierte Positionen zusammengebracht. Viele sind skeptisch gegenüber diesen Übungen, die nur weit weg von Zuhause, nicht innerhalb der Familie und nicht alltäglich durchgeführt werden können.

- „Und eure Frauen?“ Es war ihr klar, dass die zwei Männer in geordneten Verhältnissen lebten, auch wenn sie nicht unbedingt verheiratet waren. „Habt ihr je gedacht, euch zu trennen?“

- „Ja... schon... aber das hätte ich nie gemacht“, antwortete Bernd.

- „Meine Frau hat...“ fing Matthias an, bis Bernd ein Zeichen mit der Hand machte und fragte: „Und du?“

- „Ah, bei mir ist es kompliziert“, wich sie etwa aus.

- „Ich hätte Amerikaner sein können“, nahm Bernd das Gespräch wieder auf. „Mein Groß-Onkel ist in die USA ausgewandert und wollte die ganze Familie nachkommen lassen.“ „Guck an, jetzt kommt doch der Onkel“, dachte sie sich.

- „Dein Groß-Onkel war also ein Migrant.“

- „Nein, er hat viel gearbeitet.“

Erneut unternahm sie den Versuch, das Thema zu wechseln.

- „Bist du bodenständig?“, fragte sie Bernd.

- „Ja! Ich bin bodenständig. Genau. So ist es“, antwortete er.

Die zwei Männer zeigten sich sehr stolz darauf, bodenständig zu sein. Ihre Frage schien Bernd dazu zu verhelfen, sein Motto zu finden; als ob sie ihm einen Namen für seinen Zustand gegeben hätte und er sich dadurch besser fühlte. Dagegen schien sie etwas erschüttert zu sein. Eins muss hier vorausgeschickt werden: Sie spielte mit der – zugegebenermaßen pedantischen – Idee, eine „Soziologie der Bodenständigkeit“ zu schreiben. Wie die Leute, die Teil an der vor ihr zu diesem Zweck geführten Studie teilgenommen hatten, waren die zwei Männer beschäftigte, sportliche Väter und Vereinsmenschen aus der Mitte der Gesellschaft, die gerne karierte Hemden trugen. Vom Ethos des Maßhaltens – nicht zu viel, nicht zu wenig –, das bezeichnend für ihre Teilnehmer war, war hier jedoch nicht die Rede – zumindest nicht politisch. Sie fürchtete sogar – was auch von ihr sicher pedantisch war ihnen ein zu positives Bild und Narrativ geliefert zu haben.

Das zweite – oder dritte? – Glas war leer, die Argumente gingen aus. Die Männer beglichen die Rechnung, auch für sie. Sie hatten zwar ordentlich getrunken, jedoch nicht zu viel. Julius meldete sich dann per SMS vom Flughafen mit einem: „Ich hoffe, Du hast die zwei AfD-Verschwörungstheoretiker gut überstanden.“ Er bedankte sich auch für das gute Gespräch. Das Trio jedoch überquerte den Rynok und begab sich an einen anderen Ort. Ob sie dort vom Bier auf Wodka wechselten, weiß man nicht. Auch wenn sie sichtlich unterschiedlicher Meinung waren und das Gespräch eher sprunghaft war, sollte man sich nicht täuschen: Sie hatten den Abend „gut überstanden.“

***

Inspiriert von den zwei Männern schrieb sie einige Wochen später unter dem Titel „Das gewünschte Ende der Ambivalenz“ einen Text für die Zeitung. Darin war zu lesen, dass in der Popularität der Themen und Argumente jener Schicht, die die zwei Männer exemplarisch vertreten, der Wunsch zu erkennen ist, den Ambivalenzen der Zeit ein Ende zu setzen. Letzterer findet Ausdruck, so stellte sie als Hypothese auf, in einer Sehnsucht nach festen Rollen, einer betonten Männlichkeit, einer klaren nationalen Identität und Begriffen wie Bodenständigkeit. Sie erinnerte die Leser an die Frühsoziologen, die die Ambivalenzen und widersprüchlichen Erfahrungen für die fundamentalsten Elemente der modernen Ordnung hielten. Gegen jede Ambiguität und Mehrdeutigkeit wird Klarheit, Ordnung, Kontrolle gefordert, auch dort, wo sie schon herrschen.

***

Eins hatte sie jedoch bei ihren Überlegungen vergessen: Statt sich von der Onkel-Geschichte und anderen Themen irritieren zu lassen, hätte sie das Kontingenzbewusstsein der eigenen Existenz („ich hätte ein anderer Mensch sein können“) und die Situation besser beobachten können. Denn: Ein Geist des Spielens und des Abenteuers, ein leichter Flirt schwebten über dem Abend, der ein Stück Ambivalenz erkennen ließ und nicht mit den vorgetragenen Argumenten zusammen passte. Darin liegt vielleicht Hoffnung.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen