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Montag, 18. Juni 2018

Prost


Sie sitzt im 8:56 Uhr Zug auf der Strecke Krakau – Przemyśl, auf dem Weg nach Lwiw. Zwei Männer mittleren Alters betreten das Abteil. Sie riechen nach Alkohol; Bier haben sie sich mitgebracht. Ich würde mich gern mit ihnen unterhalten, aber die Körpersprache der Frau – die sich sofort mit mir als ihresgleichen verbündete –, verbot es eindeutig. Als ich kurz eingenickt war, sind die Männer wohl ausgestiegen. Wir haben das Fenster aufgemacht.
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Taras ist ein pensionierter Polizist. Wir sind uns zufällig begegnet und sahen uns ein paar Male danach wieder – in Lwiw trifft man sich häufiger wieder. Er pflegt abends in Bars mit Freunden zu sitzen. Wenn er mich erblickt, sagt er: „Ich bin betrunken!“ oder „I’m drunk!“, wohl abhängig davon, ob er gerade an seine Stationierungszeit in der DDR oder an seine mehrfachen Besuche bei seinen Kindern in Kanada denkt.

In Gesellschaft gleichaltriger Männern verbringt Taras die Abende bei Wodka und Bier. Einer dieser Männer, Roman, spricht Polnisch, und wir können uns mehr unterhalten. Lwiw ist schön, die Linden duften, ob ich verheiratet bin. Auch irgendetwas über seine Prostata erzählt er – eine Erklärung, warum er weniger als die anderen Anwesenden trinkt? Ich gebe zu, ich habe es nicht recht verstanden. Sprachverwirrungen ­– er fällt ins Ukrainische, ich bin der Sprache nicht mächtig – und Alkohol waren im Spiel, aber irgendwie ist Kommunikation diesmal möglich. Ich wechsle das Thema und erkundige mich, worüber sich die Männergesellschaft unterhält. Er nuschelt etwas über die Revolution. „Jaka?“ [welche?], „październikowa“ [Oktober]. „Ach so...“
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Im Deutschunterricht an der Iwan-Franko-Universität erzählen die Studierenden über ihr Leben: Das gemeinsame Wohnen mit Eltern und Geschwistern und rauschende Hochzeitsfeste sind wiederkehrende Themen. Ich frage: „Was findet ihr komisch, wenn ihr durch die Straßen geht?“ „What?“, sie wechseln ins Englische, „What is weird, strange? „People wearing oversized clothes or people with dreadlocks, you know“. „Und die Alkoholiker auf öffentlichen Plätzen?“, will ich wissen. „No!“ kam es gleich einstimmig wie aus der Pistole geschossen. „This is normal, just like the old ladies pushing their way into the tram“. Wie für meine Mitreisende im Zug scheinen die Trinkenden für die Studierenden nicht außergewöhnlich oder verpönt zu sein, sie sind aber kein Teil davon.
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Ganz anders in Erfurt, wo ich aktuell eine Studie durchführe. Temperentia sei eine Chiffre der Moderne, so schrieb mir ein Professor nach der Lektüre eines von mir verfassten Artikels gleichen Namens. Darin ist die Rede von Bodenständigkeit und von einem Ethos des Maßhaltens: nicht zu viel, nicht zu wenig. Seit ich diese Tendenz beobachtet habe, wundere ich mich oft, wo die Leute, die die Frauen von der KoWo [Kommunalen Wohnungsgesellschaft] in den späten 1990er Jahren fast liebevoll „unsere Alkoholiker” nannten, alle hingegangen sind. Sind sie an den Folgen ihres Konsums gestorben? Oder aus der Stadt verdrängt worden? Vielleicht sind die Leute, oft Paare, die Seite an Seite mit Ellbogen auf Kissen aus dem Fenstern guckten – erinnern Sie sich noch? – deshalb kaum noch zu sehen, weil es auf der Straße nichts mehr zu schauen gibt.
Bei dieser Entwicklung und bei aller Mäßigung ist es interessant, dass nun ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen in Erfurt und woanders eingeführt wird. Vielleicht ist die Zahl der Alkoholiker indirekt proportional zu der Aufregung, die sie verursachen: Je weniger sie sind, desto deutlicher sieht man sie und heftiger diskutiert man über sie.

Kann sein, dass Lwiw ein ähnliches Schicksal erfährt und dass man den Wandel der Stadt an diesen kleinen Indizien eben festmachen kann.
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 Keine Bange, zu viel habe ich im Lwiw nicht getrunken. OK, außer vielleicht einmal. Zu viel über Alkohol zu schreiben ist sowieso nicht bodenständig, das hat mal ein Gymnasiallehrer aus Jena mir gegenüber angedeutet. Über die neue Polizeireform in der Ukraine oder die Oktoberrevolution hatte Roman, der Polizist, keine Lust, sich mit mir zu unterhalten. Schade. Ich hätte gerne etwas dazu geschrieben. Die schönen Gebäude, der aromatische Duft der Linden – dazu komme ich noch.

Samstag, 2. Juni 2018

Mon chéri

Außen sind die Namen französisch (mon chéri, charme), die Bezeichnungen englisch (nail studio, brow bar, make up, lazer). Die Namen erinnern an die Ferne, drinnen werden jedoch keine Fremdsprachen gesprochen.
Maria, die auf deren gute Qualität schwört, nahm mich an diesem Tag mit. Vom Bildschirm ertönte laute lateinamerikanische, englische und ukrainische Popmusik, jedoch keine russische. Den SängerInnen und TänzerInnen merkte man an, dass sie viel Zeit an einem solchen Ort verbringen: im Schönheitssalon.
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Es ist schön, ein Salon in vielen Städten zu haben, allein der Beobachtungsmöglichkeiten wegen. „Du gehst oft in den Schönheitssalon?“ fragte Maria. „Nein. Eigentlich kenne ich bloß Friseursalons.“ „Friseure – Taxifahrer auch – sind wie Soziologen, gute Beobachter“, ergänzte ich.
Eine Ausbildung als Friseurin steht mir noch bevor. Im Moment bin ich aber als Soziologin unterwegs. Zu meinen bisherigen Beobachtungen kann ich Folgendes berichten: Bei meinem Friseur in Erfurt, in unmittelbarer Nähe zur Altstadt, kriegt man zum Kaffee einen anständigen Haarschnitt und -Farbe. „Bleaching“ und „ombré“ macht die Chefin prinzipiell nicht, aus ethischen Gründen – „es macht die Haare ganz kaputt,“ beteuert sie. Sie ist sowieso nicht darauf angewiesen, denn Kundschaft hat sie genug.
In Montréal schneidet mein Friseur die Haare schnell und gut, tendenziell aber etwas zu kurz. Es ist, als ob das unausgesprochene Motto der Erfurter Friseurin, „nicht zu viel, nicht zu wenig“ hier nicht gelten würde. Und in Lwiw? Ist man in einem Salon angemeldet, kriegt man dort alles gemacht: Haare, Nagellack samt Design, Augenbrauen, Makeup, Wimpern – Maniküre und Pediküre selbstverständlich auch – und bestimmt noch andere Angebote, die mir noch nicht bekannt sind.
Maria lässt sich die Nägel in einem dezenten Rosa lackieren, an einem Finger lässt sie Blitzer malen, „un petit extra“, wie auch ein Salon genannt werden könnte. Ich sehe zu, während ich der Soziologie zur Liebe auch meine Nägel lackiert bekomme.

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Linke Hand, rechte Hand. Ob Männer auch hierherkommen, will ich von der Nagelexpertin wissen. Es wird im Salon laut gelacht und geredet, ich verstehe nicht alles. „Nein, nicht, ob Männer deinen Beruf ausüben, ob es auch männliche Kunden gibt?“ „Ach so! Manchmal kommen schöne Männer aus der Türkei oder Italien, unsere nicht,“ antwortete Natalia während Maria ein Gesicht machte, als ob es ganz hoffnungslos sei. Von Männern erwarten die Frauen im Salon wenig. Ihre chéris sollten „akуpatни“, gepflegt, sein. Abgesehen vom kurzen Haarschnitt und sauberem Hemd scheinen Männer wenig in die Schönheitsindustrie zu investieren. Die meisten Anstrengungen gehen wohl in eine bestimmte Körperhaltung, die ich noch nicht genau beschreiben kann.
Rechte Hand, linke Hand. „Stört dich die Musik nicht?“ frage ich Natalia weiter. „Was? Nö!“ erwidert sie etwas verblüfft. Die Songs wiederholen sich und SängerInnen und TänzerInnen entsprechen nicht dem Kanon der political correctness. Tomasz, der Ethnologe aus Polen, der hier forscht und mit mir Notizen austauschte, bemerkte zum Thema Schönheit, dass es in den letzten Jahren in der Stadt anders geworden sei. Die Röcke seien z.B. länger geworden. Jenseits des internationalen Trends mag die Länge der Röcke – sowie die Beliebtheit der Sneakers und flachen Sandalen – als Indiz für einen sozialen Wandel in den Geschlechterverhältnissen und für mehr Bewegungskomfort gedeutet werden.
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Bei allen möglichen Schönheitskanons und der Ambivalenzen ihrer Institutionen gegenüber ist der Salon in Lwiw eine Oase, eine kleine Kur vom Alltag. Klar geht es um soziale Erwartungen in der Schönheits- und Musikindustrie, aber auch um mehr. Dort geht man oft mit einer Freundin hin, nimmt sich Zeit, tut was für sich. Letzten Endes steckt im Wort Maniküre oder Pediküre auch das Wort „Kur.“ Manchmal lässt man sich auch beraten. Eine Friseurin empfahl mir mal, meine Haare nicht zu kurz zu schneiden. Sie sah, dass ich an dem Tag traurig war und riet mir von einer allzu raschen Veränderung ab.
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Beim Rausgehen ertönte noch die Musik und die Tänzer wurden nicht müde. Beim Zahlen schaute die heilige Maria auf uns. Es ging, etwas leichter, wieder in den Alltag.