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Dienstag, 14. August 2018

Der, da oben



Abends auf dem Nachhauseweg hörte ich: „Hey Barbara!“ Ein Bekannter aus Deutschland stand mit ausgestreckten Armen an der Straßenecke. Es war eine schöne Überraschung. Mit seiner Familie tranken wir roten Schnaps und verabredeten uns für den nächsten Morgen an einem Ort in der Altstadt, wo er als Kind gewohnt hatte. 
           In den letzten Wochen habe ich viele Lebensgeschichten gehört. Oft ging es um die Kindheit meiner Gesprächspartner, und um die Balkons der Altstadt, die die Wohnungen einer ganzen Etage in den inneren Höfen verbinden. So sei es auch bei meinem Bekannten gewesen: Als Kind sei er auf den Balkonen des Hauses Fahrrad gefahren und habe mit anderen Kindern gespielt. In den Erzählungen wird dann mitunter erwähnt, dass manche Hausbewohner irgendwann in den 1990er Jahren weg waren. Die Hausgemeinschaft erfuhr, dass sie nach Israel, Deutschland, Kanada ausgewandert waren. Das sei das Ende der Idylle auf den Balkons gewesen. Manche blieben, wie die Mutter meines Bekannten aus Deutschland. Er selbst ist später gegangen. Weg ist er aber doch nicht ganz. Auswandern heißt lange nicht, dass man sich nicht mehr bewegt. Im Gegenteil.* Mein Bekannter, der sich selbst gern „der Lemberger“ nennt, ist mit der Stadt sehr verbunden, identifiziert sich stark mit ihr und beschäftigt Landsleute in seiner Firma an der deutsch-polnischer Grenze.

***
Wenn ich mit Menschen in Lwiw zusammenspazieren gehe, bieten sie mir private, inoffizielle Führungen durch die Stadt. Wir trinken meistens zuerst Kaffee und die Wahl des Kaffeehauses sagt mir einiges über den Eindruck, den sie mir vermitteln wollen (intellektuell, „authentisch“, angesagt). Mit dem Lemberger ging es von der Altstadt in nördliche Richtung, links vom alten Marktplatz. Dort gibt es erstaunlich viele Kinderspielplätze. Man muss kein Detektiv sein, um daraus abzuleiten, dass dort jüdische Gebetshäuser und Schulen gestanden haben. Gedenktafel auf ukrainisch und englischweisen darauf hin. Mein Bekannter machte mich darauf aufmerksam, dass das Wort Synagoge von den Tafeln weggekratzt war. Auf meine Frage, ob er selbst schon Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht habe, gab er mir aber eine negative Antwort.
Auf seinem Smartphone hatte mein Bekannter Fotos von früher, vor dem zweiten Weltkrieg. Wir versuchten, die geknipsten Orte wiederzufinden. Der Spaziergang führte uns in die Vuhilna-Straße. Als der Lemberger sich anschickte, etwas zu sagen, machte ein Herr vorgerückten Alters die Tür eins heruntergekommenen Gebäudes auf. Nach kurzer Unterhaltung traten wir herein. An den Wänden des Hauseingangs waren Fotos und Plakate geklebt, die auf Projekte, Ausstellungen, Kooperationen eines jüdischen Kulturzentrums erinnern. Es war eine schöne Überraschung.
Es wurde eine Mischung aus Russisch, Ukrainisch und Deutsch geredet. Die zwei Männer kannten sich. Naja, der Ältere kannte die Mutter des Jüngeren. Informationen wurden ausgetauscht, eine Zeitung geschenkt, Postkarten rausgeholt. Zwischendurch wurde rumtelefoniert und Fotos gemacht und ich wusste schon, dass ich mich später auf Facebook wiederfinden würde. So ist es eben in Lwiw – ich will gar nicht kritisch sein. Facebook sei hier etwas Besonderes, Politisches, und wenn hier Katzenfotos gepostet werden, dann oft zum Schutz der Tiere (siehe Die Katzenfrau).
Während die beiden Männer sich unterhielten, inspizierte ich das Gebäude. Während meiner Runde erblickte ich eine schöne Überraschung: die unerwartete, helle, wunderschön heruntergekommene Gebetshalle der früheren Synagoge.
Als die zwei Männer zu mir kamen, erfuhr ich, dass das Gebäude 1844 errichtet wurde, und erst als Gebetshalle, dann als Lager und später als Turnhalle benutzt wurde, bevor es zur Zeit der Perestroika ein Kulturzentrum wurde und 1991 in die Hände von jüdischen Organisationen überführt wurde. Bei aller Dankbarkeit für die Informationen hätte ich gern den Anblick auf die Gebetshalle ein bisschen länger genossen. Es war ein kurzer Moment der Transzendenz, der durch den in der Halle liegenden Krempel noch verstärkt wurde. Dass die Halle, wie die Stadt überhaupt, auf Renovierung wartet, scheint noch zu ihrer besonderen Schönheit und Kraft beizutragen. (Foto: frühere Jakób Glanzer Synagoge)

*** 
Beim Abschied küsste mich der ältere Herr und mein Bekannter machte noch schnell ein Foto. Als wir wieder in den Alltag der Altstadt eintraten, wunderten wir uns über die Überraschungen, die „der, da oben“ – der Lemberger machte einen Zeichnen mit der Hand, ich nickte – auf unseren Weg gelegt hatte. Wir setzten den Spaziergang kurz fort und beendeten ihn, wie er angefangen hatte. Mit einem Kaffee und einem roten Schnaps.


* Wie Anna Xymena Wieczorek in „Migration and (Im)Mobility. Biographical Experiences of Polish Migrants in Germany and Canada“ (2018) veranschaulicht.