Samstag, 4. August 2018

Lemberg ist in Montréal



Wir trafen uns im Café, die Reporterin und ich. Sie fragte nach meinen Eindrücken von der Stadt. Ob die Stadt sich durch ihre Vielfalt kennzeichnete? „Heute ist sie sehr homogen“, war meine Antwort. Sprachlich gibt es eine gewisse Vielfalt, zwischen Ukrainisch und Russisch. Religiös etwa. LGTBT+ und andere Arte von Vielfalt, eher wenig. Die vielen Denkmäler, die überwiegend Männer und Ukrainer darstellen, bekräftigen diesen Eindruck (siehe „Der versteinerte Präsident“ https://stadtschreiberin-lemberg.blogspot.com/2018/06/der-versteinerte-prasident.html).
Die Vielfalt der Stadt scheint vielmehr in der Vergangenheit zu liegen. Nach Lemberg – oder Czernowitz – fährt man nicht hin: Man pilgert dorthin. Die Stadtverwaltung und private Unternehmer haben die Sehnsucht nach der Vielvölkermonarchie offenbar erkannt und geschickt vermarktet. Im Alltag wissen dagegen viele Menschen nichts davon oder sind schlicht mit anderen Sachen beschäftigt. Sie wissen nicht – ich leider auch noch nicht – wer alles in den von ihnen bewohnten Häusern früher gelebt hat. Aus diesem Grund habe ich bis zum heutigen Tag in diesem Blog über Lwiw, und nicht Lemberg, geschrieben.
Dank des hiesigen Museums „Territorium des Terrors“ (Територія Терору), des Centers for Urban History of East Central Europe und anderer Institutionen werden im Sommer Holzwürfel mit Informationstafeln zur Deportation von Juden und anderen Opfern der Nazi-Gewalt an vielen Orten der Stadt aufgestellt. Das ist gut.
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Überrascht war die Reporterin, als ich über die Hutchison-Straße und Montréal, die kanadische Stadt, in der ich lebe, erzählte: Dort spreche ich jeden Tag Französisch und Englisch. Jiddisch höre ich täglich. Es ist die Sprache der Chassidim, die in großer Zahl in der Straße und deren Umgebung wohnen. Viele ihrer Vorfahren sind am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem heutigen Belarus, der Ukraine und Russland gekommen.
Als ich meine Polnischlehrerin in Montréal – eine ältere Dame aus Schlesien – fragte, wie ich mir multikulturelle Städte Mittel- und Osteuropas vor dem Krieg vorstellen sollte, antwortete sie: „Sie brauchen sich nur hier im Viertel umzuschauen.“ Sie hatte recht: Im Alltag wechselt man oft die Sprachen, mal mit einer gewissen Unsicherheit, mal absolut ohne Hemmung. Ähnlich ist es mit der Geschichte der Gotteshäuser: Es gibt viele Synagogen, Tempel und Kirchen – das ukrainische Kulturzentrum meines Viertels war mal eine katholische Kirche, dann eine Synagoge. Seine Räume beherbergen heute eine jüdische reformierte Gemeinde.
In Montréal ist die Vielfalt Alltag, d.h. gelebt und insofern neu, und auch ein bisschen in der Vergangenheit geblieben. Musikalische und literarische Beispiele kann man anführen. So Paul Kunigis. Er ist Sänger und Musiker. Er bezeichnet sich als „katholischer Montrealer polnischer Herkunft, der jüdische Wurzel hat und in Israel groß geworden ist“ (https://paulkunigis.com/).* Er mischt Klezmer mit französischen Chansons und orientalischen Klängen. Seine Musik hat mit dem heutigen Polen oder Israel nicht viel zu tun. Das ist ihm bewusst. In Montréal hat er sein Publikum gefunden.
Wenn man die Stimmung der Romane von Joseph Roths sucht und sich dafür interessiert, was daraus geworden ist, dann sollte man Montréal besuchen.


*„Un montréalais catholique d’origine polonaise, d’ascendance juive, élevé en Israël dans un pensionnat dirigé par des frères jésuites français, je me suis retrouvé dans le pays de mon enfance en train d’enregistrer une chanson d’un juif polonais anglophone, de Montréal, descendant de la même ville que mon père, Vilnius en Lituanie, que j’ai traduit et adapté en français avec des arrangements à ma sauce, moyen/orientaux.“

Samstag, 28. Juli 2018

Instagrambeauties


An der Universität in Montréal wollte mal eine Fotografin ein Bild von mir machen. „Machen Sie bitte den Kopf gerade. Nein, gerade. Sie machen es immer noch.“ Als ich mich wehrte und behauptete, dass ich es nicht täte, erwiderte sie sachlich: „Doch, Frauen machen‘s, wenn sie fotografiert werden: Sie stellen den Kopf leicht zur Seite.“ Das hätte ich lieber nicht gewusst, denn seitdem sehe ich geneigte Köpfe überall.
Wenn sie bestimmt kein anthropologisches Universell ist, ist diese Gewohnheit mindestens Teil eines globalen Trends. In Lwiw gibt es sie auch, die geneigten Köpfe. Seit ich sie etwas widerwillig sehe, beobachte ich auch folgendes bei Laien-Fotoshootings: geschmollte Münder, sexy Augen, einen leicht gehobenen oder – wie bei einer Ballerina – gespitzten Fuß. Die Haare scheinen auch ganz wichtig zu sein. Es gibt eine besondere Geste, die Frauen machen, um die Haare auf die Seite zu schieben, aber ich steige noch nicht ganz durch. Auch diejenige, die diese Gewohnheiten belächeln, beherrschen oft selbst die Kunst des Haare-zur-Seite-schieben. Ob sie es merken? Nein, nicht immer, aber manchmal schon. Die Anleitungen zum Fotoshooting, die auf YouTube zu finden sind, deuten darauf hin.
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Wenn Lwiw eine Person wäre, wäre sie eine Instagrambeauty. Sie ist ja sehr fotogen, sehr vintage. Ihr Filter wäre „Crema“, ein warmes Gelb. Kein Wunder, dass die Stadt als Kulisse für Filme dient und zu diesem Zweck eine Kommission ins Leben gerufen wurde. Eine Konkurrentin ist Prag, eine andere „instagramble“ Stadt. Dort reisen Bräute und Bräutigame aus aller Welt hin, um ihre Hochzeitsfotos zu shooten. Lwiw ist in dieser Hinsicht noch nicht so international bekannt, aber nichtsdestotrotz wird viel geheiratet und reichlich fotografiert. Neben Paaren in der Altstadt sind schwangere Frauen im Strysky Park, Freundinnen auf dem Schewtschenko-Boulevard, glückliche Babys im Gras, junge Models in Türrahmen zu erblicken. Viele von diesen Fotos findet man später auf sozialen Medien.

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Bei öffentlichen Kulturveranstaltungen sind Kameras allgegenwärtig und live streams üblich: Wie in einem Spiegel kann sich das Publikum bei Lust und Laune selbst live während Veranstaltungen auf Telefone anschauen.
Überhaupt läuft, so kommt es mir zu mindestens vor, das Leben mehr online hier als in Montréal oder Berlin. Eingekauft wird viel im Netz, geflirtet wird mitunter über Klicks auf Facebook und Herzen auf Instagram. Sogar Drogen werden nicht auf der Straße verkauft, sondern online bestellt – die Internet-Adressen der Anbieter werden an Häuserwände mit Farben gesprüht.
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Es war mal ein kleines Hobby von mir: Ich machte Screenshots von Posts auf Facebook, von meinen Freude mit schmollendem Mund oder Kollegen mit leicht gehobenem Fuß. Nun werde ich auf Facebook getaggt, wenn ich hier an Veranstaltungen teilnehme. Mein Hobby ist keins mehr. Und oft muss ich an die Fotografin in Montréal und ihre Mahnung – „Machen Sie bitte den Kopf gerade“ denken. Es ist ziemlich anstrengend, ständig aufzupassen, dass der Kopf nicht geneigt ist.




Samstag, 21. Juli 2018

Zombie


Mit zwei Kollegen saß ich neulich in einem Café in der Altstadt Lwiws, da wo es die vielen Touristen gibt. Aus der Entfernung drang eine Melodie. Ich erkannte das Lied „Zombie“ von The Cranberries.
Während die Klänge ertönten, verlor ich kurz die Aufmerksamkeit; ich wurde wie in eine andere Zeit versetzt, über zwanzig Jahre zurück.
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Damals, in den 1990er Jahren, als „Zombie“ gerade in die Charts gekommen war und noch lange kein Klassiker der Popmusik war, schien das Leben irgendwie dramatischer, tragischer, auch improvisierter als heute. Die Wende war an der Grenze des Gestern, noch kein historisches Ereignis geworden; in Gesprächen war sie allgegenwärtig.

Das 1990er-Jahre-Gefühl, dass das Lied in mir hervorrief, empfinde ich auch in Lwiw heute. Die Melodie mischt sich mit vielfältigen sinnlichen Erfahrungen: dem Blick auf den dekadenten Charme der unrenovierten Altenbauten, dem architektonischen Erbe des Kommunismus und einem bestimmten Geruch. Er kommt vom Gebrauch von alten Autos, nicht von der Braunkohle. Weil sie hier ganz fehlte, haben die Gebäude der Stadt ihre sanften Farben erhalten.
Die 1990er Jahre sind in Lwiw nicht nur sinnlich wiedererstanden: Auch im Diskurs sind sie präsent. Die Intellektuellen der Stadt konstruieren noch das Erbe der Revolutionen, da wo sie anderswo abgelebte Epochen, historische Wirklichkeit bilden.
Weil ich den Wandel selber miterfahren habe, werde ich das Gefühl irgendwie nicht los, dass das Leben hier nicht so bleiben kann. Anders ausgedrückt: Es ist schön, hier zu sein, bevor sich alles ändern könnte. 

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Beim Abschied im Café schenkte mir ein Kollege eine CD. „Klassische Musik oder Jazz?“ fragte er. Ich nahm Jazz – klassisch gewordene Popmusik hatte er nicht dabei. Auf meinem Heimweg hörte und erblickte ich sie: Die junge Frau, die allein an einer Straßenecke, unter den an ihr vorbeihuschenden Touristen, Gitarre spielte. Sie stimmte abermals den bekannten Refrain an: „In your head, in your head, zombie, zombie, zombie, ei, ei…“ Ohne dass es ihr bewusst war, brachte sie Epochen und Sehnsüchte zusammen; sie ließ die 1990er Jahre wiedererwachen.




Donnerstag, 19. Juli 2018

„C’est étrange!“


Die Katzenfrau

Sie hat eine Mission, einen wichtigen Auftrag zu erfüllen: Sie füttert die herrenlosen, herumstreunenden Katzen der Stadt. Auch sorgt sie dafür, dass sie kastriert werden und gesund bleiben. Eine Chronik zum Tierschutz beim lokalen Radiosender hat sie gehabt. Sie ist die Katzenfrau Lwiws.
Zuhause kann sie die Allergiker unter den Soziologen nicht empfangen, denn Katzen hat sie in der Wohnung viele, über zwanzig wird spekuliert.

Wir treffen uns an einem geheimen Ort. Dort pflegt sie neun Katzen. Ich verrate den Namen des Ortes nicht, da ich der Katzenfrau keinen Schaden zufügen möchte. Auf einen Spendenaufruf verzichte ich damit ebenso. Die Katzenfrau wird nämlich oft erpresst. So soll eine Frau sie angerufen haben und sie bedroht haben: „Ab Morgen bin ich in Rente. Ich komme nicht mehr zum Ort XYZ. Wenn du die Katzen nicht fütterst, hast du sie auf dem Gewissen.“ Solche Bedrohungen bekäme die Katzenfrau öfter. Kein Wunder, dass sie nicht gerne ans Telefon oder an die Tür geht.
Wenn Sie sich vorstellen, dass die Katzenfrau komisch ist, irren Sie sich. Sie ist menschenfreundlich, offen, normal. Nur die Tasche mit Futter und Katzenleckerli mag sie verraten, und dass sie selten in den Urlaub fährt.

Die Kreuzfrau 

Aus dem Inneren der Kirche nimmt sie unseren Anruf entgegen. Sie kommt raus und erzählt von einer Mission, die es zu erfüllen gilt: Das Land vom Bösen zu retten. Zum Glück ist sie nicht allein. Es sind andere, die ihr zur Seite stehen. Sie ist die Kreuzfrau Lwiws.
Vor den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004 hat sie, zusammen mit Gleichgesinnten, ein Holzkreuz gebaut und es neben der Mutter Gottes – von der der Auftrag wohl kam – unweit vom Adam-Mickiewicz-Platz aufgestellt.
Seitdem sind viele Wunder und heroische Taten geschehen – das Kreuz wurde bis zum Maidan in Kiew transportiert, zum Teil auf dem Rücken getragen, irgendwann von Aktivistinnen abgesägt, später wieder aufgebaut. Dort soll es auch geblutet haben.
Heute sind die Unruhen im Land nicht ganz vorbei, aber es geht wieder einigermaßen. So ist die Kreuzfrau in der Kirche. Eine Katze hat sie bestimmt nicht, denn sie ist viel unterwegs, auch im Ausland: Sie pilgert von einem Ort zum Nächsten. Sie organisiert und fordert Menschen auf, mit ihr auf Pilgerreise zu gehen. Sie ist eine Unternehmerin des Glaubens.
Für diejenigen, die in der Stadt bleiben müssen, ist das Gelände um das Holzkreuz ein Mini-Pilgerort. Dort trifft man stets einzelne Männer mit Kurzhaarfrisuren und umgehängten Taschen sowie Frauen aller Haarlängen – je älter, desto kürzer. Sie stellen sich vor das Kreuz, beten und bekreuzigen sich; manche küssen es. Manchmal gibt es auch Gruppen, mit Flaggen und Megaphonen.

Eine Genehmigung von der Stadt gab es für das Kreuz wohl nie, aber wer würde schon auf die Idee kommen, es zu thematisieren? Sogar diejenigen, die an die Kraft des Kreuzes zweifeln, wollen das Schicksal nicht unbedingt herausfordern.
            Wenn sie sich vorstellen, dass die Kreuzfrau komisch ist, irren Sie sich. Sie ist eloquent, beschäftigt, normal. Sie redet viel und gerne. Nach einer bestimmten Zeit zieht sie schnell ein Tuch über den Kopf und geht mit raschem Schritt wieder in die Kirche, um einen höheren Anruf entgegenzunehmen.
                                                

Die Dichter

Wir laufen auf einer Straße in der Altstadt. Sie kennt alle, so kommt es mir vor. „Der da ist Dichter“, sagt sie, als ob es das Normalste der Welt wäre. Ein paar Minuten später passiert es zu meinem Erstaunen wieder: „Er ist ein Dichter aus Lwiw“. Und nochmals: „Sie ist eine wichtige Lyrikerin.“ Wir stehen und unterhalten uns noch mit einem Mann, der nebenbei erwähnt: „Ich habe damals ein Gedichtband veröffentlicht.“
Ich sitze bei einer Lesung und höre mir die Dichter an. Manche sind ziemlich pathetisch, aber es scheint nur mich zu stören. Es geht um das Land, die Sprache, auch um Religion. Die meisten Dichter sind allerdings modern und mit anderen Themen beschäftig; sie arbeiten nicht unbedingt mit Reimen. Bei aller Unterschiedlichkeit haben sie eine höhere Mission: Die Kunst, die Sprache. Wenn sie ihre Gedichte vorlesen, habe ich – wie bei der Kreuzfrau – manchmal den Eindruck, dass ich ihre mir noch unbekannte Sprache verstehe.
Sichtlich brauche ich Nachhilfe. Freunde und Bekannte wollen mir helfen. So bekomme ich eine große Zahl von Büchern, Sammlungen, schön gebunden, in vielen Sprachen übersetzt. Auf meinem Schreibtisch entsteht eine bunte Sammlung von Texten. Ich lese sie und stelle fest, dass ich bei den Feuilletonisten, die ich so gerne lese, die Gedichte und Lieder immer übersprungen habe. Bei Tucholsky war mir Peter Panter immer lieber als Theobald Tiger.
Es liegt bestimmt an mir, denke ich, Soziologin und Hobby-Belletristin. Ich entscheide mich also, den Literaten unter meinen Freunden, Bekannten und Verwandten in Montréal zu schreiben. Ich will die hiesige Lage besser einschätzen. Wenn Sie sich vorstellen, dass Dichter auf der anderen Seite des Atlantiks komisch betrachten werden, dann irren Sie sich nicht. Alle sind sich einig: „c’est étrange!“

Ich habe weder eine Katze adoptiert, noch eine Pilgerfahrt unternommen, aber auf einer Abendveranstaltung habe ich inzwischen selbst etwas vorgelesen. Gott o Gott!

Samstag, 7. Juli 2018

Kopflose Frauen


Bei mir im Viertel, unweit vom Präsidenten [siehe Der versteinerte Präsident] sind sie da: die kopflosen Frauen.
Sie stehen den ganzen Tag an der Iwan-Franko-Straße und warten auf Kundschaft. Sie tragen stets weiß. Naja, vielleicht nicht ein ganz sauberes weiß. Es kann nicht anders sein: Es ist eine viel befahrene Straße, die Autos sind oft alt, es ist verschmutzt. Hätten sie einen Kopf würden sie husten. Eine Petition gegen Diesel können sie nicht unterschreiben, denn Arme haben sie auch nicht.

Es sind so viele! Es gibt zwar auch welche woanders in der Stadt, aber hier befinden sie sich in einer Menge konzentriert. Die Straße ist dafür bekannt. Die Masse steht hier wohlgemerkt nicht für billig. Nein. Hierher kommt man auch zum Schauen, bevor man kostengünstigere Varianten im Internet bestellt.
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Kopflose Gestalten findet man auch in Geschäften. Sie sind absolut sauber, makellos. Bei aller Vielfalt – mit Spitze (im Trend), Steinen (klassisch), Pailletten (glänzend), gestickt (traditionell) oder seltener mit Perlen geschmückt – sind sie stets lang (es muss sein). Eines fand ich hübsch. Es kostete 10 000 грн – etwa 325 Euros –, viel Geld für die hiesigen Gehälter.
„Wann kommen sie zum Einsatz?“ frage ich die Verkäuferin, die nach ihnen Ausschau hält. Man schließt bekanntlich den Bund der Ehe nicht so oft. „Auf Geburtstagen, Familienfeiern, Bällen“ ist ihre schlichte Antwort. Ach so, vielleicht wollen sie einmal, ein einziges Mal, getragen werden, wohl wissend, dass sie auf Fotos verewigt werden.
Im Geschäft sind wir – meine Begleiterin und ich – allein. Die Verkäuferin sagt, es sei nicht die Saison. Wir kaufen auch keine. Auf Bälle werden wir nie eingeladen und einen Blog zu schreiben, führt selten auf den roten Teppich.

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Die kopflosen Frauen sind alle so schlank. Meine Begleiterin macht sich Sorgen um die stabileren Frauen. Sind sie gar nicht vertreten? Und was ist mit Schwangeren – davon solle es so viele geben? Nach langer Suche, kommen wir ihnen auf die Spur: Sie befinden sich zwar nicht auf der Straße, im Schaufenster oder im „Showroom“, sondern in den hinteren Boutiquen und in den Kellern der langen Höfe. Da, vor neugierigen Blicken geschützt, werden sie justiert, breiter gemacht, angepasst.

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Es ist wahrhaftig eine Industrie. Ein Blick auf die Straße reicht, um es sich zu vergegenwärtigen. Die kopflosen Frauen ziehen Geschäfte nach ihnen: Schuhen, Blumen, Tischdekorationen, Fotoateliers.
Und ihre Männer? Hier sind sie weit und breit nicht zu sehen. „Vielleicht sind sie gerade anderswo, in eigenen Geschäften?“ wage ich als Erklärung. Meine Begleiterin scheint daran zu zweifeln. Sie schaut mich an und verdreht die Augen.

Samstag, 30. Juni 2018

Der versteinerte Präsident

Die Menschen in Lwiw gehen eher spät ins Bett. Deshalb wissen viele nichts von ihnen. Sie hören sie vielleicht, noch im Schlaf: tse, tse, tse. Sie kehren die Straßen mit Besen aus Holzzweigen, wie es diese schon zu meiner Zeit gab. Es sind Hunderte, die jeden Tag in aller Frühe Papierschnitzel, Zigarrenstummel und allerlei Abfälle wegfegen, wichtige Orte mit frischen Blumen schmücken und an bestimmten Tagen blaue und gelbe Flaggen an den Masten der Häuser anbringen. Ihre orangefarbenen Westen sind nicht so elegant, aber was soll’s. Von meiner Warte aus beobachte ich sie. Es sind meine Dienstleute, meine guten Leute.
Ich bin es, Mychajlo Hruschewskyj*. Nach mir wurde – zumindest inoffiziell – der Platz, wo ich gerade sitze benannt,
um meinem Wirken als Historiker der Ukraine, Wissenschaftsförderer und erster Präsident unseres Landes zu gedenken. Früher war hier der Dramaturg Graf Aleksander Fredro ansässig. Er ist aber nach dem Krieg, dem zweiten, nach Wrocław gezogen.

In der Stadt wohnen auch viele andere Kollegen aus künstlerischen und intellektuellen Kreisen: Poeten, Schriftsteller, Maler, Sänger, Politiker, fast alle Männer, fast alle Ukrainer. Der alte Adam [Mickiewicz, Anm. d. Ü.] ist zu schwer, um sich bewegen zu können. Vor ihm holen heutige polnische Touristen einen komischen Stab aus ihren Taschen, befestigen einen seltsamen kleinen Apparat drauf, stellen sich vor ihn und verziehen den Mund. Fragen Sie mich nicht, wieso sie sowas machen. Bei mir passiert derartiges nicht. Zum Glück! Stattdessen werden frische Blumen regelmäßig gebracht. Dafür sorgen meine guten, braven Dienstleute.
Es schmerzt mich, dass manche Zeitgenossen vorbeigehen, ohne zu grüßen. Trügen sie noch Hüte, würden sie ihn vielleicht leicht ziehen. Man kennt mich aber, heute noch. Ich bin in zweierlei Hinsicht eine Referenz: als nationale Figur und als Treffpunkt. Männer und Frauen sagen nicht, „wir treffen uns südlich vom Marktplatz“, sondern „wir treffen uns beim Hruschewskyj“. Das mag familiär klingeln, dennoch: Wenn sie der Fremden erklären, wer ich bin, betonen sie mit einem gewissen Stolz „unser“ erster Präsident, der von 1917.
Als ich noch jung war, bin ich viel gereist, z.T. zwangsweise. Viel habe ich gearbeitet, unheimlich viel geschrieben, vor allem als Professor, hier in dieser Stadt. Seit der wiedergewonnenen Unabhängigkeit unseres Landes bin ich wieder hierhergezogen. Seit 1994 habe ich mich nicht mehr groß bewegt, ich habe mich sozusagen da „hingesetzt“ und pflege, Zeitung zu lesen. Manche behaupten, ich sei etwas steif geworden, aber man bewegt sich im Alter bekanntlich weniger.
Mein Viertel ist kein schlechtes. Ich bin zwar nicht vor der Oper oder am Rynok, aber immerhin nicht weit vom Zentrum entfernt. Eigentlich bin ich am richtigen Ort, direkt an der „Akademika-Str.,“ entschuldigen Sie, ich meine die Schewtschenko-Str. Ach du meine Güte, wie oft wurden all die Straßennamen geändert! Hier habe ich als Professor, Mitglied und Präsident der Wissenschaftlichen Schewtschenko-Gesellschaft gewirkt. Auch zur Sowjetzeit wohnten hier Akademiker. Und die nationale Bibliothek ist heute noch in unmittelbarer Nähe. Es zu wissen, behagt mich.
Direkt am Platz ist ein neues, hässliches Gebäude. Zum Glück ist es hinter mir. Ich muss es mir nicht anschauen – einen steifen Hals würde ich davon bestimmt bekommen. Vor dem Platz gibt es, wie es mir scheint, viele Neureiche: Juweliergeschäfte, Designerboutiques, Restaurants und Hotels.
viele Neureiche: Juweliergeschäfte, Designerboutiques, Restaurants und Hotels. Es wird tagsüber laut telefoniert, abends werden rauschende Feste gefeiert, manchmal trauen sich einige Touristen bis hierher, jenseits vom Marktplatz. Egal was passiert: Am nächsten Tag sind sie da. Meine guten, braven, treuen Leute. Stets stehen sie früh auf und sorgen, unauffällig, für Ordnung.


*1866-1934
**Fotos, Center for Urban History

Sonntag, 24. Juni 2018

Kleine umgehängte Taschen


Taschentücher – alte und neue –, Portemonnaie, Schlüsselbund, Fahrkarte, Notizbuch, Handy, Eyeliner, Loratadin, USB-Sticks, Einkaufsliste, Kopfhörer, Taschen in der Tasche (Einkaufstasche, Hundetüten), ein Exemplar des Watch Towers, das mir geschenkt wurde. Neben Krümeln ist es das, was ich fand, als ich meine Handtasche entleerte. Kleine Talismane habe ich gerade nicht gehabt, dafür müsste ich einen Blick in meinen Kulturbeutel werfen.
Typisch Frauen? Möglich. Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat ein Buch über Taschen geschrieben (Le sac. Un petit monde d’amour. Paris, J.-C. Lattès, 2011). Er lässt Frauen über ihre Taschen und deren Inhalt reden und entdeckt vieles im Alltäglichen. Männer interessieren ihn dagegen weniger. Wenn sie überhaupt eine Tasche besitzen, erzählten sie wenig oder Funktionales, trügen sie sowieso wenig bei sich. Hätte Kaufmann seine Studie in Lwiw anstatt in französischen Städten durchgeführt, hätten auch Männer Eingang in sein Buch finden müssen.
In Lwiw tragen fast alle Männer eine Tasche und dass unabhängig –
wie es mir scheint – von Alter und Klassenzugehörigkeit. Während bei Frauen eine gewisse Vielfalt anzutreffen ist, herrscht bei Männern Einseitigkeit: Die Taschen sind klein und eckig, meist schwarz, aus Stoff oder Leder. Sie werden umgehängt und fallen auf die Hüfte, links oder rechts. Touristen aus anderen ukrainischen Städten haben oft zwei, der Kamera wegen. Wenn man sich alte Bilder anschaut, gleichen die kleinen Taschen den Hüten, die Männer früher anhatten. Damit werden sich visuelle Soziologen der Zukunft sicher beschäftigen.


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Wenn die Kulturgeschichte der Männertaschen noch zu schreiben ist, steht bereits fest: Sie waren nicht immer da; sie sind wohl erst in den 2000er Jahren aufgetaucht; sie haben Plastiktüten verdrängt, damit verkörpern sie einen gewissen Wohlstand; Spezialgeschäfte haben zunehmend Konjunktur, denn Frauen – die sie meistens kaufen – streben nach Leder und vermeiden den Bazar.
Schriebe man ihre Geschichte, bekämen die Männertaschen vielleicht mehr Glamour. Irgendwie sind sie traurig, hilflos, farblos. Kleine traurige Taschen: Sie sind so gegenwärtig und normal, dass sie keine Beachtung finden. Einen eigenen Namen haben sie noch nicht einmal – man sagt einfach „сумка“, Tasche. Als ich mich über sie erkundigte, musste ich erklären, welche Tasche ich im Sinn hatte. Anna, um nur ein zufälliges Beispiel zu nehmen, nahm einfach die Tasche ihres Ehemannes, machte sie auf und zeigte mir ihren notdürftigen Inhalt: eine Brille, etwas Geld, einen Schlüssel.
Praktisch, rein funktional seien die Taschen. Sie enthalten kein Geheimnis – wer würde auch etwas Intimes reinstecken, wenn andere Zugriff auf deren Inhalt haben? So gesehen könnten die Taschen durchsichtig sein. Das ist bei Frauen anders: Ein mir bekannter Mann hat mal im Supermarkt die Handtasche seiner Frau aufgemacht und einen Scheidungsbrief gefunden, der sein Leben auf einen Schlag verändern sollte.
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Auf die Frage „Hast Du keine umgehängte Tasche?“, erwiderte Ignacy, ein polnischer Kollege und Kenner der Ukraine, dass er keine habe. Er wusste sofort, worum es ging. Sie seien, fügte er sachlich hinzu, eigentlich unpraktisch: sie böten nicht genug Platz für einen Computer und seien somit nur zu solchen Zielen brauchbar, wo nur mehr als ein Portemonnaie benötig werde.
Ich vermute sogar, dass die Taschen nicht selten leer sind. Das Handy ist hier in Lwiw so oft im Einsatz, dass es sich wahrscheinlich nicht lohnt, es überhaupt in die Tasche reinzustecken. Wenn nicht am Ohr, hält man es besser in der Hand oder steckt es in die Hosentasche. Wenn Sie Beweise brauchen, weilen Sie einige Minute in einer Parkanlage. Sie werden sie beobachten: Abdrücke von Portemonnaies und Handys in den hinteren oder vorderen Hosentaschen. Und um einen Regenschirm zu beherbergen, wären die Taschen sowieso zu klein.
Warum legt man eine Tasche um? Warum trug man einen Hut bis in die 1950er Jahre? Aus Konventionen, weil es sich so gehört, weil es halt so ist. Frauen wollen das oft nicht glauben und beharren auf die Funktionalität der Tasche: „Was machen bloß die Männer ohne Tasche? Wie geht das überhaupt?“ Schaut man auf Deutschland, sieht man – je nach Klassen, Berufsgruppen und Alter – Alternativen: die Taschen der beigen Westen, die bei manchen Männern vorgerückten Alters auffällig sind, die Taschen von Cargo-Hosen, die Innentasche vom Anzug, der Rucksack oder, ja meine Damen, ihre Tasche.



Gibt es Hoffnung auf ein glänzenderes Dasein der Taschen? Sie mögen als Modeartikel aufgewertet werden. So erblickte ich einige Exemplare auf der Straße und auf Modenschauen. Sie werden auch umgehängt, aber anders – ein Zeichen eines neuen Bewusstseins von Männern, das besser über Funktionalität transportiert wird.