In Montréal fiel das Wort „вишиванка“ (Wyschywanka) gleich bei der dritten Unterrichtseinheit meines ukrainischen Lehrbuches. Meine Lehrerin erzählte irgendwas von Stickereien, die sie in der Schule gemacht hatte... Ich vergaß gleich das Wort. Bei meinen notdürftigen Kenntnissen schien es mir nicht wichtig.
Drei Monate später war ich endlich in Lwiw. Ich kam abends an. Es war schon etwas dunkel. Erst am nächsten Tag erblickte ich die Stadt und ihre Menschen in Farbe. Die Stadt war geschmückt
mit gelben und blauen Flaggen und viele Menschen trugen weiße Hemden mit gestickten Motiven. Das
war der Wyschywanka-Tag, der Tag der Hemden. Da fiel mir sofort die
Unterrichtseinheit wieder ein...
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Ein paar Tage später trat der Alltag ein. Die gestickten Hemden waren noch da, ihr Auftreten wurde dagegen diskreter. Wie üblich in Deutschland waren an jenen Tagen viele karierte Hemden anzutreffen.
Am nachfolgenden Sonntag waren wieder viele bestickte Hemden da. An Sonntagen, nationalen
Feiertagen, bei Zivilehen und Taufen oder am letzten Schultag sind sie wohl öfter
zu sehen.
Manche sind handgestickt, selbst oder von einer geliebten Person, andere sind
vom Bazar.
Sie gehören wohl zu den Gegenständen, die allgemeine ästhetische Zustimmung zu
genießen scheinen.
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Bei einem Besuch bei Herrn Nikolai fragte ich, ob er auch eine Wyschywanka
habe. Was für eine Frage! Er verschwand kurz aus dem Zimmer und kam mit einem
schönen Exemplar zurück. Ich bewunderte es und erkundigte mich, ob seine Frau auch
einen derartigen besäße. Ich bekam sie nicht zu sehen, nur einen bestimmten Blick,
der so viel bedeutete: „Man wolle gar nicht damit anfangen“. So viele waren es
wohl. An der Wand der Wohnung waren Bilder von der
Familie. Auch die Enkel im entfernten Kanada trugen auf ihren Schulbildern das
Hemd.
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In
Rumänien gibt es sie auch. Dort nennt man sie „ia“. Meine Kollegin Monica hat kürzlich
darüber einen Vortrag gehalten. Dort werden sie eher von Frauen getragen. Hierzulande
werden sie auch viel von Männern angezogen. Sie erlauben es ihnen, sich schick
zu kleiden (siehe den Beitrag „mon chéri“).
Überhaupt scheinen die Hemden demokratisch zu
sein: Sie werden von Vertretern aller Generationen getragen. Sie sind dezent,
nicht sexy. Sie sind inklusiv: Ihre Träger sprechen mal Ukrainisch, mal Russisch
und auch Fremde können sie kaufen. Obwohl sie auf dem Bazar manchmal neben Armeeklamotten verkauft werden, zeigen sie sich pazifistisch.
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Bei einer religiösen Prozession zum Schutz
der Familie am letzten Wochenende waren die gestickten Hemden gut vertreten.
Dort wurden Ansprachen gehalten. Die Familie, hieß es, sei die Urträgerin von
ukrainischen Traditionen und Werten. Die Teilnehmer wiederholten Parolen,
„Papa, Mama, Kinder“. Mir schien die potentielle Wirkung der gestickten Hemden größer
als diejenige der Parolen, die gerufen worden waren.
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Es gibt verschiedene Gründe, das Hemd zu tragen: der Schönheit, Mode oder dem
nationalem Stolz wegen, den Großeltern eine Freude zu machen, anständig
aussehen, um in die Kirche zu gehen, oder womöglich, weil alles andere in der
Wäsche war. Bei der Vielfalt von Motiven trägt das Hemd sicher zum nationalen
Bewusstsein bei.
Bisher sind mir wenig Kritiker des Hemdes begegnet. Viktoriya mag sie zwar
nicht besonders, hat aber eigentlich nichts gegen sie. Es sei nicht ihr Ding.
Chrystyna spielt ironisch mit der Tradition, wenn sie das Hemd erst nach dem Wyschywanka-Tag
trägt. Vielleicht liegt die Dissidenz heute darin, es nicht zu tragen, denke
ich mir.
Aus der Ferne hört man manchmal Kritik. Das Hemd werde von Modehäusern wie Yves
Saint-Laurent instrumentalisiert; es begünstige „cultural appropriation“, also kulturelle
Vereinnahmung und Kommerzialisierung. Mag sein, mir scheint aber, dass die
Modehäuser auch im Sinne des Hemds arbeiten und seinen Status stärken.
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Im Fremdensprachenunterricht scheinen die ukrainischen
Kinder auch das Wort „Stickerei“ zu lernen. Eine junge Frau, die nicht so gut Englisch
spricht, erzählte mir an meinem zweiten Tag in der Stadt von „embroidement“. Natürlich
trug sie auch eins.