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Samstag, 4. August 2018

Lemberg ist in Montréal



Wir trafen uns im Café, die Reporterin und ich. Sie fragte nach meinen Eindrücken von der Stadt. Ob die Stadt sich durch ihre Vielfalt kennzeichnete? „Heute ist sie sehr homogen“, war meine Antwort. Sprachlich gibt es eine gewisse Vielfalt, zwischen Ukrainisch und Russisch. Religiös etwa. LGTBT+ und andere Arte von Vielfalt, eher wenig. Die vielen Denkmäler, die überwiegend Männer und Ukrainer darstellen, bekräftigen diesen Eindruck (siehe „Der versteinerte Präsident“ https://stadtschreiberin-lemberg.blogspot.com/2018/06/der-versteinerte-prasident.html).
Die Vielfalt der Stadt scheint vielmehr in der Vergangenheit zu liegen. Nach Lemberg – oder Czernowitz – fährt man nicht hin: Man pilgert dorthin. Die Stadtverwaltung und private Unternehmer haben die Sehnsucht nach der Vielvölkermonarchie offenbar erkannt und geschickt vermarktet. Im Alltag wissen dagegen viele Menschen nichts davon oder sind schlicht mit anderen Sachen beschäftigt. Sie wissen nicht – ich leider auch noch nicht – wer alles in den von ihnen bewohnten Häusern früher gelebt hat. Aus diesem Grund habe ich bis zum heutigen Tag in diesem Blog über Lwiw, und nicht Lemberg, geschrieben.
Dank des hiesigen Museums „Territorium des Terrors“ (Територія Терору), des Centers for Urban History of East Central Europe und anderer Institutionen werden im Sommer Holzwürfel mit Informationstafeln zur Deportation von Juden und anderen Opfern der Nazi-Gewalt an vielen Orten der Stadt aufgestellt. Das ist gut.
***
Überrascht war die Reporterin, als ich über die Hutchison-Straße und Montréal, die kanadische Stadt, in der ich lebe, erzählte: Dort spreche ich jeden Tag Französisch und Englisch. Jiddisch höre ich täglich. Es ist die Sprache der Chassidim, die in großer Zahl in der Straße und deren Umgebung wohnen. Viele ihrer Vorfahren sind am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem heutigen Belarus, der Ukraine und Russland gekommen.
Als ich meine Polnischlehrerin in Montréal – eine ältere Dame aus Schlesien – fragte, wie ich mir multikulturelle Städte Mittel- und Osteuropas vor dem Krieg vorstellen sollte, antwortete sie: „Sie brauchen sich nur hier im Viertel umzuschauen.“ Sie hatte recht: Im Alltag wechselt man oft die Sprachen, mal mit einer gewissen Unsicherheit, mal absolut ohne Hemmung. Ähnlich ist es mit der Geschichte der Gotteshäuser: Es gibt viele Synagogen, Tempel und Kirchen – das ukrainische Kulturzentrum meines Viertels war mal eine katholische Kirche, dann eine Synagoge. Seine Räume beherbergen heute eine jüdische reformierte Gemeinde.
In Montréal ist die Vielfalt Alltag, d.h. gelebt und insofern neu, und auch ein bisschen in der Vergangenheit geblieben. Musikalische und literarische Beispiele kann man anführen. So Paul Kunigis. Er ist Sänger und Musiker. Er bezeichnet sich als „katholischer Montrealer polnischer Herkunft, der jüdische Wurzel hat und in Israel groß geworden ist“ (https://paulkunigis.com/).* Er mischt Klezmer mit französischen Chansons und orientalischen Klängen. Seine Musik hat mit dem heutigen Polen oder Israel nicht viel zu tun. Das ist ihm bewusst. In Montréal hat er sein Publikum gefunden.
Wenn man die Stimmung der Romane von Joseph Roths sucht und sich dafür interessiert, was daraus geworden ist, dann sollte man Montréal besuchen.


*„Un montréalais catholique d’origine polonaise, d’ascendance juive, élevé en Israël dans un pensionnat dirigé par des frères jésuites français, je me suis retrouvé dans le pays de mon enfance en train d’enregistrer une chanson d’un juif polonais anglophone, de Montréal, descendant de la même ville que mon père, Vilnius en Lituanie, que j’ai traduit et adapté en français avec des arrangements à ma sauce, moyen/orientaux.“

Donnerstag, 19. Juli 2018

„C’est étrange!“


Die Katzenfrau

Sie hat eine Mission, einen wichtigen Auftrag zu erfüllen: Sie füttert die herrenlosen, herumstreunenden Katzen der Stadt. Auch sorgt sie dafür, dass sie kastriert werden und gesund bleiben. Eine Chronik zum Tierschutz beim lokalen Radiosender hat sie gehabt. Sie ist die Katzenfrau Lwiws.
Zuhause kann sie die Allergiker unter den Soziologen nicht empfangen, denn Katzen hat sie in der Wohnung viele, über zwanzig wird spekuliert.

Wir treffen uns an einem geheimen Ort. Dort pflegt sie neun Katzen. Ich verrate den Namen des Ortes nicht, da ich der Katzenfrau keinen Schaden zufügen möchte. Auf einen Spendenaufruf verzichte ich damit ebenso. Die Katzenfrau wird nämlich oft erpresst. So soll eine Frau sie angerufen haben und sie bedroht haben: „Ab Morgen bin ich in Rente. Ich komme nicht mehr zum Ort XYZ. Wenn du die Katzen nicht fütterst, hast du sie auf dem Gewissen.“ Solche Bedrohungen bekäme die Katzenfrau öfter. Kein Wunder, dass sie nicht gerne ans Telefon oder an die Tür geht.
Wenn Sie sich vorstellen, dass die Katzenfrau komisch ist, irren Sie sich. Sie ist menschenfreundlich, offen, normal. Nur die Tasche mit Futter und Katzenleckerli mag sie verraten, und dass sie selten in den Urlaub fährt.

Die Kreuzfrau 

Aus dem Inneren der Kirche nimmt sie unseren Anruf entgegen. Sie kommt raus und erzählt von einer Mission, die es zu erfüllen gilt: Das Land vom Bösen zu retten. Zum Glück ist sie nicht allein. Es sind andere, die ihr zur Seite stehen. Sie ist die Kreuzfrau Lwiws.
Vor den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004 hat sie, zusammen mit Gleichgesinnten, ein Holzkreuz gebaut und es neben der Mutter Gottes – von der der Auftrag wohl kam – unweit vom Adam-Mickiewicz-Platz aufgestellt.
Seitdem sind viele Wunder und heroische Taten geschehen – das Kreuz wurde bis zum Maidan in Kiew transportiert, zum Teil auf dem Rücken getragen, irgendwann von Aktivistinnen abgesägt, später wieder aufgebaut. Dort soll es auch geblutet haben.
Heute sind die Unruhen im Land nicht ganz vorbei, aber es geht wieder einigermaßen. So ist die Kreuzfrau in der Kirche. Eine Katze hat sie bestimmt nicht, denn sie ist viel unterwegs, auch im Ausland: Sie pilgert von einem Ort zum Nächsten. Sie organisiert und fordert Menschen auf, mit ihr auf Pilgerreise zu gehen. Sie ist eine Unternehmerin des Glaubens.
Für diejenigen, die in der Stadt bleiben müssen, ist das Gelände um das Holzkreuz ein Mini-Pilgerort. Dort trifft man stets einzelne Männer mit Kurzhaarfrisuren und umgehängten Taschen sowie Frauen aller Haarlängen – je älter, desto kürzer. Sie stellen sich vor das Kreuz, beten und bekreuzigen sich; manche küssen es. Manchmal gibt es auch Gruppen, mit Flaggen und Megaphonen.

Eine Genehmigung von der Stadt gab es für das Kreuz wohl nie, aber wer würde schon auf die Idee kommen, es zu thematisieren? Sogar diejenigen, die an die Kraft des Kreuzes zweifeln, wollen das Schicksal nicht unbedingt herausfordern.
            Wenn sie sich vorstellen, dass die Kreuzfrau komisch ist, irren Sie sich. Sie ist eloquent, beschäftigt, normal. Sie redet viel und gerne. Nach einer bestimmten Zeit zieht sie schnell ein Tuch über den Kopf und geht mit raschem Schritt wieder in die Kirche, um einen höheren Anruf entgegenzunehmen.
                                                

Die Dichter

Wir laufen auf einer Straße in der Altstadt. Sie kennt alle, so kommt es mir vor. „Der da ist Dichter“, sagt sie, als ob es das Normalste der Welt wäre. Ein paar Minuten später passiert es zu meinem Erstaunen wieder: „Er ist ein Dichter aus Lwiw“. Und nochmals: „Sie ist eine wichtige Lyrikerin.“ Wir stehen und unterhalten uns noch mit einem Mann, der nebenbei erwähnt: „Ich habe damals ein Gedichtband veröffentlicht.“
Ich sitze bei einer Lesung und höre mir die Dichter an. Manche sind ziemlich pathetisch, aber es scheint nur mich zu stören. Es geht um das Land, die Sprache, auch um Religion. Die meisten Dichter sind allerdings modern und mit anderen Themen beschäftig; sie arbeiten nicht unbedingt mit Reimen. Bei aller Unterschiedlichkeit haben sie eine höhere Mission: Die Kunst, die Sprache. Wenn sie ihre Gedichte vorlesen, habe ich – wie bei der Kreuzfrau – manchmal den Eindruck, dass ich ihre mir noch unbekannte Sprache verstehe.
Sichtlich brauche ich Nachhilfe. Freunde und Bekannte wollen mir helfen. So bekomme ich eine große Zahl von Büchern, Sammlungen, schön gebunden, in vielen Sprachen übersetzt. Auf meinem Schreibtisch entsteht eine bunte Sammlung von Texten. Ich lese sie und stelle fest, dass ich bei den Feuilletonisten, die ich so gerne lese, die Gedichte und Lieder immer übersprungen habe. Bei Tucholsky war mir Peter Panter immer lieber als Theobald Tiger.
Es liegt bestimmt an mir, denke ich, Soziologin und Hobby-Belletristin. Ich entscheide mich also, den Literaten unter meinen Freunden, Bekannten und Verwandten in Montréal zu schreiben. Ich will die hiesige Lage besser einschätzen. Wenn Sie sich vorstellen, dass Dichter auf der anderen Seite des Atlantiks komisch betrachten werden, dann irren Sie sich nicht. Alle sind sich einig: „c’est étrange!“

Ich habe weder eine Katze adoptiert, noch eine Pilgerfahrt unternommen, aber auf einer Abendveranstaltung habe ich inzwischen selbst etwas vorgelesen. Gott o Gott!

Sonntag, 27. Mai 2018


Hängen immer Flaggen, wenn man am Sonntag in Lwiw aufsteht? 



 

Samstag, 19. Mai 2018

Wohin


In einem Restaurant sprach mich eine Frau an, die sich gerade mit ihrer Familie in Lwiw aufhielt. Sie kamen aus Iași, Rumänien. Weil sie zwei Tage Vorsprung hatten – ich war vor zwei Tagen angekommen –, fragte ich, was ich mir in der Stadt anschauen sollte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Die Kirchen, unbedingt!“ Iași ist in diesem Punkt auch ein guter Ort, merkte ich.

Nicht so, als ob Religion sich auf religiöse Gebäude reduzieren ließe. Religion scheint auch außerhalb der Kirchen präsent zu sein. Im Stadtzentrum stehen junge und alte Frauen, Männer auch, die Hände zum Gebet gefaltet oder kniend, vor einer Statue Marias und einem weißen Kreuz an einer viel befahrenen Kreuzung. Fußgängermassen gehen an ihnen vorbei. Niemand schaut hin – überhaupt scheint wenig in Lwiw geschaut zu werden.
Bei einem Poesie-Abend in einer Bar trägt eine der Dichterinnen ein T-Shirt, so wie viele Frauen in Deutschland es auch gern tragen, mit Marinefarben, goldenen Tönen und pflanzenähnlichen Mustern. Nur hat sie Christus auf dem Rücken. Neben anderen Themen wird über Religion an diesem Abend mit einem gewissen Pathos gedichtet. Religion wird auch einverleibt.
Eine Frau, die Lwiw gut kennt, sagt, sie wüsste, wo man solche T-Shirts kaufen kann. Ich werde dort hingehen.
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Männer stehen davor, viele sind schon drinnen, vor einem kleinen Fenster mit Gitter. Es ist abends, schon spät. Was ist das? Ein Wettbüro? Nein, ein Lombard, ein Pfandgeschäft. Ich brauche noch ein Messer, eine Teekanne, einen Flaschenöffner. Ich werde dort hingehen. 
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Sie arbeitet in einer Abteilung der Stadt. Dort sollten Geschlechterfragen demnächst Thema werden. Von welchem Gesichtspunkt sollte man die Sache angehen? Oft wird sie als „question of dignity“ betrachtet, fügt sie hinzu. Sie suchen eine Soziologin. Ob ich hingehen würde? Selbstverständlich.
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Im Kulturpalast sitzt die Frau, die Lwiw gut kennt, wenn sie nicht in Sachen Kulturdiplomatie unterwegs ist. Was für ein Gebäude! In den 1930er Jahren für städtische ArbeiterInnen gebaut, modernistisch, aus roten Backsteinen, mit Marmor in allen Farben, Parkett mit Motiven, alles unglaublich verwinkelt. Dort gibt es einen Konzertsaal mit riesigem Kronleuchter, ein ehemaliges Kino im Keller, das mal ein Nightclub beherbergte und nun gelegentlich der Poesie gewidmet wird, einen Tanzsaal mit rosa Vorhängen. Ob Salsa getanzt wird? „Nein, eher traditionelle Tänze.“ Ok. Die Frau im Vorzimmer hört Delfinmusik und sagt, dass die Chefin gerade nicht im Haus ist. Ich werde noch mal hingehen.