Wir trafen
uns im Café, die Reporterin und ich. Sie fragte nach meinen Eindrücken von der
Stadt. Ob die Stadt sich durch ihre Vielfalt kennzeichnete? „Heute ist sie sehr
homogen“, war meine Antwort. Sprachlich gibt es eine gewisse Vielfalt, zwischen
Ukrainisch und Russisch. Religiös etwa. LGTBT+ und andere Arte von Vielfalt, eher
wenig. Die vielen Denkmäler, die überwiegend Männer und Ukrainer darstellen, bekräftigen
diesen Eindruck (siehe „Der versteinerte Präsident“ https://stadtschreiberin-lemberg.blogspot.com/2018/06/der-versteinerte-prasident.html).
Die Vielfalt der Stadt scheint vielmehr in der
Vergangenheit zu liegen. Nach Lemberg – oder Czernowitz – fährt man nicht hin: Man pilgert dorthin. Die
Stadtverwaltung und private Unternehmer haben die Sehnsucht nach der Vielvölkermonarchie
offenbar erkannt und geschickt vermarktet. Im Alltag wissen dagegen viele Menschen
nichts davon oder sind schlicht mit anderen Sachen beschäftigt. Sie wissen
nicht – ich leider auch noch nicht – wer alles in den von ihnen bewohnten Häusern
früher gelebt hat. Aus diesem Grund habe ich bis zum heutigen Tag in diesem
Blog über Lwiw, und nicht Lemberg, geschrieben.
Dank des hiesigen Museums „Territorium des Terrors“ (Територія
Терору), des Centers for Urban History of East Central Europe und anderer
Institutionen werden im Sommer Holzwürfel
mit Informationstafeln zur Deportation von Juden und anderen Opfern der Nazi-Gewalt
an vielen Orten der Stadt aufgestellt. Das ist gut.
***
Überrascht war die Reporterin, als ich über die Hutchison-Straße
und Montréal, die kanadische Stadt, in der ich lebe, erzählte: Dort spreche ich
jeden Tag Französisch und Englisch. Jiddisch höre ich täglich. Es ist die
Sprache der Chassidim, die in großer Zahl in der Straße und deren Umgebung wohnen.
Viele ihrer Vorfahren sind am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem heutigen Belarus,
der Ukraine und Russland gekommen.
Als ich meine Polnischlehrerin in
Montréal – eine ältere Dame aus Schlesien – fragte, wie ich mir multikulturelle
Städte Mittel- und Osteuropas vor dem Krieg vorstellen sollte, antwortete sie:
„Sie brauchen sich nur hier im Viertel umzuschauen.“ Sie hatte recht: Im Alltag
wechselt man oft die Sprachen, mal mit einer gewissen Unsicherheit, mal absolut
ohne Hemmung. Ähnlich ist es mit der Geschichte der Gotteshäuser: Es gibt viele
Synagogen, Tempel und Kirchen – das ukrainische Kulturzentrum meines Viertels
war mal eine katholische Kirche, dann eine Synagoge. Seine Räume beherbergen heute
eine jüdische reformierte Gemeinde.
In Montréal ist die Vielfalt Alltag,
d.h. gelebt und
insofern neu, und auch ein bisschen in der Vergangenheit geblieben. Musikalische
und literarische Beispiele kann man anführen. So Paul Kunigis. Er ist Sänger
und Musiker. Er bezeichnet sich als „katholischer Montrealer polnischer
Herkunft, der jüdische Wurzel hat und in Israel groß geworden ist“ (https://paulkunigis.com/).* Er mischt
Klezmer mit französischen Chansons und orientalischen Klängen. Seine Musik hat
mit dem heutigen Polen oder Israel nicht viel zu tun. Das ist ihm bewusst. In
Montréal hat er sein Publikum gefunden.
Wenn man die Stimmung der
Romane von Joseph Roths sucht und sich dafür interessiert, was daraus geworden
ist, dann sollte man Montréal besuchen.
*„Un
montréalais catholique d’origine polonaise, d’ascendance juive, élevé en Israël
dans un pensionnat dirigé par des frères jésuites français, je me suis retrouvé
dans le pays de mon enfance en train d’enregistrer une chanson d’un juif
polonais anglophone, de Montréal, descendant de la même ville que mon père,
Vilnius en Lituanie, que j’ai traduit et adapté en français avec des
arrangements à ma sauce, moyen/orientaux.“
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