Sonntag, 9. September 2018

Dichter an der Front

Ich fand mich wieder in einem Kulturpalast. Diesmal nicht im eleganten Lwiw, sondern in der nah an der Front gelegenen Industrie- und Hafenstadt Mariupol, im Osten der Ukraine. „Das ist ein Ort, wie man sich ihn vorstellt“, kommentierte ein Kollege, als wir in dem Saal, der eine Jugendweihe irgendwo in Ostdeutschland hätte beherbergen können, Platz nahmen. Sein Inneres zeugte von der Pracht eines ehemaligen Hotels, das später als sowjetisches, nun ukrainisches Haus des Volkes diente: Hohe Decken mit Sternen besetzt, die als Blumen gehen können, und beige-gelbe Wände, die zum Blau der massenproduzierten Plastikstühle passten, und eine neue Zeit anzukündigen schienen.

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Heute Abend wird vorgelesen. Dichter aus anderen ukrainischen Städten und aus Deutschland sind angereist, um Mariupol – und damit dem Osten des Landes – ihre Unterstützung zu beteuern und literarische Beiträge zu leisten (http://www.kulturallmende.org/projekte_aktuell/). Der Eingang des Palastes war mit vielen Flaggen geschmückt. Wenn man dort steht, merkt man, wie wenig letztere in Mariupol präsent sind, und umgekehrt: wie gegenwärtig sie in Lwiw sind. Am Eingang hatte sich eine kleine Ansammlung von Menschen gebildet. Man freute sich über ihre Anwesenheit, denn einige Minuten zuvor hatte man sich noch über den Anblick der leeren Straßen gewundert: „Wo sind alle Passanten hin?“ Die hier versammelten Menschen erweckten den Eindruck, als hätte sich die ganze Stadt hier eingefunden, um den Dichtern zuzuhören und an dem literarischen Abend teilzuhaben.

Die Dichter werden vorgestellt. Die Veranstalter sind angespannt, ernst und feierlich zugleich.

Die Dichter lesen vor. Es ist eine bunte Mischung: vulgäre und gepflegte; klassische und pop; engagierte und kontemplative; ernste und parodistische. Bei allen thematischen und stilistischen Unterschieden, deren Übergänge die Veranstalter moderieren, sind sich die Dichter ihrer Individualität bewusst. Letztere wird von den Blitzen der Kameras unterstrichen, und der Klang wird von einer Sprache – ukrainisch, deutsch, russisch – in eine andere in den Ohren des Publikums transportiert und gedolmetscht. Das Pathos des Vortrags in ukrainischer Sprache wird durch den leicht sarkastischen Ton des Dolmetschers gedämpft. Das ukrainisch sprechende Publikum bekommt dagegen – so scheint es, wenn man den Kopfhörer nur an ein Ohr hält – eine Variante, die um Sachlichkeit bemüht ist, als ob sie sich jeder Art von Einmischung enthalten möchte.

Die Dichter haben rezitiert. Der Dichter, der am die Veranstaltung des vorigen Tages eröffnen durfte, durfte nun den Abend offiziell beenden.

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Die literarische Begegnung ist vorbei. Die Dichterinnen samt Publikum stehen wieder am beflaggten Eingang des Kulturpalastes. Eine Teilnehmerin wundert sich: „Keiner spricht.“ „Das Publikum war so andächtig“, bemerkte ein anderer. „Auffällig war die Konzentration“, kommentierte noch jemand. „Stimmt. In Lwiw wären die Menschen mit ihren Smartphones beschäftigt gewesen“, denke ich mir. „Wann wird heute noch vorgelesen, mal von der Kirche abgesehen?“ fragte zu guter Letzt eine Teilnehmerin, bevor die Dichter in einen Bus einstiegen und losfuhren.

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Die literarische Begegnung glich vielleicht wirklich einer Messe – sogar einer lateinisch gelesenen Festmesse. Das aus Dichterinnen und heterogenen Stadtbewohnern (Soldaten in Uniform, einem Vater mit seinem erwachsenen Sohn, einem Kulturanthropologen, einigen Journalistinnen und Kulturträgerinnen, Männern und Frauen in Jeans) bestehende Publikum war angespannt, konzentriert; die Stimmung andächtig.

Die Veranstalter können zufrieden sein, über die Stimmung und die Anzahl der Anwesenden in einer Stadt, in der man sich weniger fragen muss, wieso man hingeht, als wieso man bleibt. Beobachter von religiösen Ritualen würden sicher bemerken, dass es ein seltener, ja außergewöhnlicher Moment war. Deshalb wunderte man sich über den Abend, der im Nachhinein beinahe befremdend wirkte. Während einer Messe – und wer schon mal einer Jugendweihe beigewohnt hat, weiß, dass es dort nicht anders zugeht – laufen meistens mehrere Handlungen parallel ab: Elemente des Rituellen, Gedanken (was man noch zu erledigen hat; wie die anderen aussehen; der Gedanke an den Rock, der schlecht sitzt), Kontakt zu anderen Menschen. An diesem Abend schien es jedoch anders zu sein.

Es mag sein, dass alle einfach nur müde waren. Von der Arbeit, von den durch die Fenster dringenden giftigen Industriedämpfen, von der Menge und den unterschiedlichen Stilen und Genres der vorgetragenen Dichtung. Wahrscheinlicher ist aber etwas anderes: Die besondere Stimmung lag an der gegenseitig herrschenden Ehrfurcht zwischen den Dichtern und dem anwesenden Publikum, an erster Stelle den Soldaten, die die Kameras zu lieben schienen, und deren Anwesenheit – weit weg von den vielen Lwiwer Flaggen und Wyschywankas – an die Front erinnerte.


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