Abends auf dem Nachhauseweg hörte
ich: „Hey Barbara!“ Ein Bekannter aus Deutschland stand mit ausgestreckten
Armen an der Straßenecke. Es war eine schöne Überraschung. Mit seiner Familie
tranken wir roten Schnaps und verabredeten uns für den nächsten Morgen an einem
Ort in der Altstadt, wo er als Kind gewohnt hatte.
In
den letzten Wochen habe ich viele Lebensgeschichten gehört. Oft ging es um die
Kindheit meiner Gesprächspartner, und um die Balkons der Altstadt, die die
Wohnungen einer ganzen Etage in den inneren Höfen verbinden. So sei es auch bei
meinem Bekannten gewesen: Als Kind sei er auf den Balkonen des Hauses Fahrrad
gefahren und habe mit anderen Kindern gespielt. In den Erzählungen wird dann
mitunter erwähnt, dass manche Hausbewohner irgendwann in den 1990er Jahren weg
waren. Die Hausgemeinschaft erfuhr, dass sie nach Israel, Deutschland, Kanada
ausgewandert waren. Das sei das Ende der Idylle auf den Balkons gewesen. Manche
blieben, wie die Mutter meines Bekannten aus Deutschland. Er selbst ist später
gegangen. Weg ist er aber doch nicht ganz. Auswandern heißt lange nicht, dass
man sich nicht mehr bewegt. Im Gegenteil.* Mein Bekannter, der sich selbst
gern „der Lemberger“ nennt, ist mit der Stadt sehr verbunden, identifiziert
sich stark mit ihr und beschäftigt Landsleute in seiner Firma an der
deutsch-polnischer Grenze.
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Wenn
ich mit Menschen in Lwiw zusammenspazieren gehe, bieten sie mir private,
inoffizielle Führungen durch die Stadt. Wir trinken meistens zuerst Kaffee und die Wahl
des Kaffeehauses sagt mir einiges über den Eindruck, den sie mir vermitteln
wollen (intellektuell, „authentisch“, angesagt). Mit dem Lemberger ging es von
der Altstadt in nördliche Richtung, links vom alten Marktplatz. Dort gibt es
erstaunlich viele Kinderspielplätze. Man muss kein Detektiv sein, um daraus
abzuleiten, dass dort jüdische Gebetshäuser und Schulen gestanden haben.
Gedenktafel auf ukrainisch und englischweisen darauf hin. Mein Bekannter machte
mich darauf aufmerksam, dass das Wort Synagoge von den Tafeln weggekratzt war.
Auf meine Frage, ob er selbst schon Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht
habe, gab er mir aber eine negative Antwort.
Auf
seinem Smartphone hatte mein Bekannter Fotos von früher, vor dem zweiten
Weltkrieg. Wir versuchten, die geknipsten Orte wiederzufinden. Der Spaziergang
führte uns in die Vuhilna-Straße. Als der Lemberger sich anschickte, etwas zu
sagen, machte ein Herr vorgerückten Alters die Tür eins heruntergekommenen
Gebäudes auf. Nach kurzer Unterhaltung traten wir herein. An den Wänden des
Hauseingangs waren Fotos und Plakate geklebt, die auf Projekte, Ausstellungen,
Kooperationen eines jüdischen Kulturzentrums erinnern. Es war eine schöne Überraschung.
Es
wurde eine Mischung aus Russisch, Ukrainisch und Deutsch geredet. Die zwei
Männer kannten sich. Naja, der Ältere kannte die Mutter des Jüngeren.
Informationen wurden ausgetauscht, eine Zeitung geschenkt, Postkarten
rausgeholt. Zwischendurch wurde rumtelefoniert und Fotos gemacht und ich wusste
schon, dass ich mich später auf Facebook wiederfinden würde. So ist es eben in
Lwiw – ich will gar nicht kritisch sein. Facebook sei hier etwas Besonderes, Politisches, und wenn hier Katzenfotos gepostet werden, dann oft zum Schutz der
Tiere (siehe Die Katzenfrau).
Während
die beiden Männer sich unterhielten, inspizierte ich das Gebäude. Während
meiner Runde erblickte ich eine schöne Überraschung: die unerwartete, helle, wunderschön
heruntergekommene Gebetshalle der früheren Synagoge.
Als
die zwei Männer zu mir kamen, erfuhr ich, dass das Gebäude 1844 errichtet
wurde, und erst als Gebetshalle, dann als Lager und später als Turnhalle
benutzt wurde, bevor es zur Zeit der Perestroika ein Kulturzentrum wurde und
1991 in die Hände von jüdischen Organisationen überführt wurde. Bei aller
Dankbarkeit für die Informationen hätte ich gern den Anblick auf die
Gebetshalle ein bisschen länger genossen. Es war ein kurzer Moment der
Transzendenz, der durch den in der Halle liegenden Krempel noch verstärkt wurde.
Dass die Halle, wie die Stadt überhaupt, auf Renovierung wartet, scheint noch
zu ihrer besonderen Schönheit und Kraft beizutragen. (Foto: frühere Jakób Glanzer Synagoge)
***
Beim
Abschied küsste mich der ältere Herr und mein Bekannter machte noch schnell ein
Foto. Als wir wieder in den Alltag der Altstadt eintraten, wunderten wir uns
über die Überraschungen, die „der, da oben“ – der Lemberger machte einen
Zeichnen mit der Hand, ich nickte – auf unseren Weg gelegt hatte. Wir setzten
den Spaziergang kurz fort und beendeten ihn, wie er angefangen hatte. Mit einem
Kaffee und einem roten Schnaps.
* Wie Anna Xymena Wieczorek in „Migration and
(Im)Mobility. Biographical Experiences of Polish Migrants in Germany and
Canada“ (2018) veranschaulicht.