Die Menschen in Lwiw gehen eher spät ins Bett. Deshalb wissen viele nichts von ihnen. Sie hören sie vielleicht, noch im Schlaf: tse, tse, tse. Sie kehren die Straßen mit Besen aus Holzzweigen, wie es diese schon zu meiner Zeit gab. Es sind Hunderte, die jeden Tag in aller Frühe Papierschnitzel, Zigarrenstummel und allerlei Abfälle wegfegen, wichtige Orte mit frischen Blumen schmücken und an bestimmten Tagen blaue und gelbe Flaggen an den Masten der Häuser anbringen. Ihre orangefarbenen Westen sind nicht so elegant, aber was soll’s. Von meiner Warte aus beobachte ich sie. Es sind meine Dienstleute, meine guten Leute.
Ich bin es, Mychajlo Hruschewskyj*. Nach mir wurde – zumindest inoffiziell – der Platz, wo ich gerade sitze benannt, um meinem Wirken als Historiker der Ukraine, Wissenschaftsförderer und erster Präsident unseres Landes zu gedenken. Früher war hier der Dramaturg Graf Aleksander Fredro ansässig. Er ist aber nach dem Krieg, dem zweiten, nach Wrocław gezogen.
Samstag, 30. Juni 2018
Der versteinerte Präsident
Sonntag, 24. Juni 2018
Kleine umgehängte Taschen
Taschentücher –
alte und neue –, Portemonnaie, Schlüsselbund, Fahrkarte, Notizbuch, Handy,
Eyeliner, Loratadin, USB-Sticks, Einkaufsliste, Kopfhörer, Taschen in der
Tasche (Einkaufstasche, Hundetüten), ein Exemplar des Watch Towers, das mir
geschenkt wurde. Neben Krümeln ist es das, was ich fand, als ich meine Handtasche
entleerte. Kleine Talismane habe ich gerade nicht gehabt, dafür müsste ich einen
Blick in meinen Kulturbeutel werfen.
Typisch Frauen? Möglich. Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat ein Buch
über Taschen geschrieben (Le sac. Un
petit monde d’amour. Paris, J.-C. Lattès, 2011). Er lässt Frauen über ihre
Taschen und deren Inhalt reden und entdeckt vieles im Alltäglichen. Männer interessieren ihn dagegen
weniger. Wenn sie überhaupt eine Tasche besitzen, erzählten sie wenig oder Funktionales,
trügen sie sowieso wenig bei sich. Hätte Kaufmann seine Studie in Lwiw anstatt in
französischen Städten durchgeführt, hätten auch Männer Eingang in sein Buch finden
müssen.
In Lwiw tragen fast alle Männer eine Tasche und dass unabhängig –
wie es mir scheint
– von Alter und Klassenzugehörigkeit. Während bei Frauen eine gewisse Vielfalt anzutreffen
ist, herrscht bei Männern Einseitigkeit: Die Taschen sind klein und eckig,
meist schwarz, aus Stoff oder Leder. Sie werden umgehängt und fallen auf die Hüfte,
links oder rechts. Touristen aus anderen ukrainischen Städten haben
oft zwei, der Kamera wegen. Wenn man sich alte Bilder anschaut, gleichen die
kleinen Taschen den Hüten, die Männer früher anhatten. Damit werden sich visuelle
Soziologen der Zukunft sicher beschäftigen.
***
Wenn die Kulturgeschichte der Männertaschen noch zu schreiben ist, steht bereits
fest: Sie waren nicht immer da; sie sind wohl erst in den 2000er Jahren aufgetaucht;
sie haben Plastiktüten verdrängt, damit verkörpern sie einen gewissen Wohlstand;
Spezialgeschäfte haben zunehmend Konjunktur, denn Frauen – die sie meistens kaufen
– streben nach Leder und vermeiden den Bazar.
Schriebe man ihre Geschichte, bekämen die Männertaschen vielleicht mehr Glamour.
Irgendwie sind sie traurig, hilflos,
farblos. Kleine traurige Taschen: Sie sind so gegenwärtig und normal, dass sie keine Beachtung
finden. Einen eigenen Namen haben sie noch nicht einmal – man sagt einfach „сумка“, Tasche. Als ich
mich über sie erkundigte, musste ich erklären, welche
Tasche ich im Sinn hatte. Anna, um nur ein
zufälliges Beispiel zu nehmen, nahm einfach die Tasche ihres Ehemannes,
machte sie auf und zeigte mir ihren notdürftigen Inhalt: eine Brille, etwas Geld,
einen Schlüssel.
Praktisch, rein funktional seien die Taschen. Sie enthalten kein Geheimnis – wer würde auch etwas Intimes reinstecken, wenn andere Zugriff auf deren
Inhalt haben? So gesehen könnten die Taschen durchsichtig sein. Das ist bei Frauen anders: Ein mir bekannter Mann hat mal im Supermarkt die
Handtasche seiner Frau aufgemacht und einen Scheidungsbrief gefunden, der sein
Leben auf einen Schlag verändern sollte.
***
Auf
die Frage „Hast Du keine
umgehängte Tasche?“, erwiderte Ignacy, ein polnischer Kollege und Kenner der
Ukraine, dass er keine habe. Er wusste sofort, worum es ging. Sie seien, fügte
er sachlich hinzu, eigentlich unpraktisch: sie böten nicht genug Platz für
einen Computer und seien somit nur zu solchen Zielen brauchbar, wo nur mehr als ein
Portemonnaie benötig werde.
Ich
vermute sogar, dass die Taschen nicht selten leer sind. Das Handy ist hier in
Lwiw so oft im Einsatz, dass es sich wahrscheinlich nicht lohnt, es überhaupt in die Tasche reinzustecken. Wenn nicht am
Ohr, hält man es besser in der
Hand oder steckt es in die Hosentasche. Wenn Sie Beweise brauchen, weilen
Sie einige Minute in einer Parkanlage. Sie werden sie beobachten: Abdrücke von Portemonnaies und Handys in den hinteren
oder vorderen Hosentaschen. Und um einen Regenschirm zu beherbergen, wären die Taschen sowieso zu
klein.
Warum
legt man eine Tasche um? Warum trug man einen Hut bis in die 1950er Jahre? Aus
Konventionen, weil es sich so gehört, weil es halt so ist. Frauen wollen das
oft nicht glauben und beharren auf die Funktionalität der Tasche: „Was machen
bloß die Männer ohne Tasche? Wie geht das überhaupt?“ Schaut man auf
Deutschland, sieht man – je nach Klassen,
Berufsgruppen und Alter – Alternativen: die Taschen der beigen Westen,
die bei manchen Männern vorgerückten Alters auffällig sind, die Taschen von Cargo-Hosen, die Innentasche vom Anzug, der Rucksack oder,
ja meine Damen, ihre Tasche.
Gibt es Hoffnung auf ein glänzenderes Dasein der Taschen? Sie mögen als Modeartikel aufgewertet werden. So erblickte
ich einige Exemplare auf der Straße und auf Modenschauen.
Sie werden auch umgehängt, aber anders – ein Zeichen eines neuen Bewusstseins
von Männern, das besser über Funktionalität transportiert wird.
Montag, 18. Juni 2018
Prost
Sie sitzt im 8:56 Uhr Zug auf der
Strecke Krakau – Przemyśl, auf dem Weg nach Lwiw. Zwei Männer mittleren Alters
betreten das Abteil. Sie riechen nach Alkohol; Bier haben sie sich mitgebracht.
Ich würde mich gern mit ihnen unterhalten, aber die Körpersprache der Frau –
die sich sofort mit mir als ihresgleichen verbündete –, verbot es eindeutig. Als ich kurz eingenickt war, sind die Männer wohl ausgestiegen. Wir haben
das Fenster aufgemacht.
***
Taras ist ein pensionierter Polizist.
Wir sind uns zufällig begegnet und sahen uns ein paar Male danach wieder – in
Lwiw trifft man sich häufiger wieder. Er pflegt abends in Bars mit Freunden
zu sitzen. Wenn er mich erblickt, sagt er: „Ich bin betrunken!“ oder „I’m
drunk!“, wohl abhängig davon, ob er gerade an seine Stationierungszeit in der
DDR oder an seine mehrfachen Besuche bei seinen Kindern in Kanada denkt.
In Gesellschaft gleichaltriger Männern
verbringt Taras die Abende bei Wodka und Bier. Einer dieser Männer, Roman,
spricht Polnisch, und wir können uns mehr unterhalten. Lwiw ist schön, die
Linden duften, ob ich verheiratet bin. Auch irgendetwas über seine Prostata
erzählt er – eine Erklärung, warum er weniger als die anderen Anwesenden
trinkt? Ich gebe zu, ich habe es nicht recht verstanden. Sprachverwirrungen – er fällt ins
Ukrainische, ich bin der Sprache nicht mächtig – und Alkohol waren im Spiel,
aber irgendwie ist Kommunikation diesmal möglich. Ich wechsle das Thema und
erkundige mich, worüber sich die Männergesellschaft unterhält. Er nuschelt etwas
über die Revolution. „Jaka?“ [welche?], „październikowa“
[Oktober]. „Ach so...“
***
Im Deutschunterricht an der
Iwan-Franko-Universität erzählen die Studierenden über ihr Leben: Das
gemeinsame Wohnen mit Eltern und Geschwistern und rauschende Hochzeitsfeste sind wiederkehrende Themen. Ich frage: „Was findet ihr
komisch, wenn ihr durch die Straßen geht?“ „What?“, sie wechseln ins Englische, „What is weird, strange? „People wearing oversized clothes or people with
dreadlocks, you know“. „Und die Alkoholiker auf öffentlichen
Plätzen?“, will ich wissen. „No!“ kam es gleich einstimmig wie aus der Pistole
geschossen. „This is normal, just like the old ladies pushing their way into the tram“. Wie für meine
Mitreisende im Zug scheinen die Trinkenden für die Studierenden nicht
außergewöhnlich oder verpönt zu sein, sie sind aber kein Teil davon.
***
Ganz anders in Erfurt, wo ich aktuell
eine Studie durchführe. Temperentia sei eine Chiffre der Moderne,
so schrieb mir ein Professor nach der Lektüre eines von mir verfassten Artikels
gleichen Namens. Darin ist die Rede von Bodenständigkeit und von einem Ethos
des Maßhaltens: nicht zu viel, nicht zu wenig. Seit ich diese Tendenz
beobachtet habe, wundere ich mich oft, wo die Leute, die die Frauen von der
KoWo [Kommunalen Wohnungsgesellschaft] in den späten 1990er Jahren fast
liebevoll „unsere Alkoholiker” nannten, alle hingegangen sind. Sind sie an
den Folgen ihres Konsums gestorben? Oder aus der Stadt verdrängt worden?
Vielleicht sind die Leute, oft Paare, die Seite an Seite mit Ellbogen auf
Kissen aus dem Fenstern guckten – erinnern Sie sich noch? – deshalb kaum noch
zu sehen, weil es auf der Straße nichts mehr zu schauen gibt.
Bei dieser Entwicklung und bei aller
Mäßigung ist es interessant, dass nun ein Alkoholverbot auf öffentlichen
Plätzen in Erfurt und woanders eingeführt wird. Vielleicht ist die Zahl der
Alkoholiker indirekt proportional zu der Aufregung, die
sie verursachen: Je weniger sie sind, desto deutlicher sieht man
sie und heftiger diskutiert man über sie.
Kann sein, dass Lwiw ein ähnliches Schicksal
erfährt und dass man den Wandel der Stadt an diesen kleinen Indizien eben festmachen
kann.
***
Keine Bange, zu viel habe ich im
Lwiw nicht getrunken. OK, außer vielleicht einmal. Zu viel über Alkohol zu
schreiben ist sowieso nicht bodenständig, das hat mal ein Gymnasiallehrer aus
Jena mir gegenüber angedeutet. Über die neue Polizeireform in der Ukraine oder die
Oktoberrevolution hatte Roman, der Polizist, keine Lust, sich mit mir zu
unterhalten. Schade. Ich hätte gerne etwas dazu geschrieben. Die schönen
Gebäude, der aromatische Duft der Linden – dazu komme ich noch.
Sonntag, 10. Juni 2018
Hemdengeschichten
In Montréal fiel das Wort „вишиванка“ (Wyschywanka) gleich bei der dritten Unterrichtseinheit meines ukrainischen Lehrbuches. Meine Lehrerin erzählte irgendwas von Stickereien, die sie in der Schule gemacht hatte... Ich vergaß gleich das Wort. Bei meinen notdürftigen Kenntnissen schien es mir nicht wichtig.
Drei Monate später war ich endlich in Lwiw. Ich kam abends an. Es war schon etwas dunkel. Erst am nächsten Tag erblickte ich die Stadt und ihre Menschen in Farbe. Die Stadt war geschmückt
mit gelben und blauen Flaggen und viele Menschen trugen weiße Hemden mit gestickten Motiven. Das
war der Wyschywanka-Tag, der Tag der Hemden. Da fiel mir sofort die
Unterrichtseinheit wieder ein...
***
Ein paar Tage später trat der Alltag ein. Die gestickten Hemden waren noch da, ihr Auftreten wurde dagegen diskreter. Wie üblich in Deutschland waren an jenen Tagen viele karierte Hemden anzutreffen.
Am nachfolgenden Sonntag waren wieder viele bestickte Hemden da. An Sonntagen, nationalen
Feiertagen, bei Zivilehen und Taufen oder am letzten Schultag sind sie wohl öfter
zu sehen.
Manche sind handgestickt, selbst oder von einer geliebten Person, andere sind
vom Bazar.
Sie gehören wohl zu den Gegenständen, die allgemeine ästhetische Zustimmung zu
genießen scheinen.
***
Bei einem Besuch bei Herrn Nikolai fragte ich, ob er auch eine Wyschywanka
habe. Was für eine Frage! Er verschwand kurz aus dem Zimmer und kam mit einem
schönen Exemplar zurück. Ich bewunderte es und erkundigte mich, ob seine Frau auch
einen derartigen besäße. Ich bekam sie nicht zu sehen, nur einen bestimmten Blick,
der so viel bedeutete: „Man wolle gar nicht damit anfangen“. So viele waren es
wohl. An der Wand der Wohnung waren Bilder von der
Familie. Auch die Enkel im entfernten Kanada trugen auf ihren Schulbildern das
Hemd.
***
In
Rumänien gibt es sie auch. Dort nennt man sie „ia“. Meine Kollegin Monica hat kürzlich
darüber einen Vortrag gehalten. Dort werden sie eher von Frauen getragen. Hierzulande
werden sie auch viel von Männern angezogen. Sie erlauben es ihnen, sich schick
zu kleiden (siehe den Beitrag „mon chéri“).
Überhaupt scheinen die Hemden demokratisch zu
sein: Sie werden von Vertretern aller Generationen getragen. Sie sind dezent,
nicht sexy. Sie sind inklusiv: Ihre Träger sprechen mal Ukrainisch, mal Russisch
und auch Fremde können sie kaufen. Obwohl sie auf dem Bazar manchmal neben Armeeklamotten verkauft werden, zeigen sie sich pazifistisch.
***
Bei einer religiösen Prozession zum Schutz
der Familie am letzten Wochenende waren die gestickten Hemden gut vertreten.
Dort wurden Ansprachen gehalten. Die Familie, hieß es, sei die Urträgerin von
ukrainischen Traditionen und Werten. Die Teilnehmer wiederholten Parolen,
„Papa, Mama, Kinder“. Mir schien die potentielle Wirkung der gestickten Hemden größer
als diejenige der Parolen, die gerufen worden waren.
***
Es gibt verschiedene Gründe, das Hemd zu tragen: der Schönheit, Mode oder dem
nationalem Stolz wegen, den Großeltern eine Freude zu machen, anständig
aussehen, um in die Kirche zu gehen, oder womöglich, weil alles andere in der
Wäsche war. Bei der Vielfalt von Motiven trägt das Hemd sicher zum nationalen
Bewusstsein bei.
Bisher sind mir wenig Kritiker des Hemdes begegnet. Viktoriya mag sie zwar
nicht besonders, hat aber eigentlich nichts gegen sie. Es sei nicht ihr Ding.
Chrystyna spielt ironisch mit der Tradition, wenn sie das Hemd erst nach dem Wyschywanka-Tag
trägt. Vielleicht liegt die Dissidenz heute darin, es nicht zu tragen, denke
ich mir.
Aus der Ferne hört man manchmal Kritik. Das Hemd werde von Modehäusern wie Yves
Saint-Laurent instrumentalisiert; es begünstige „cultural appropriation“, also kulturelle
Vereinnahmung und Kommerzialisierung. Mag sein, mir scheint aber, dass die
Modehäuser auch im Sinne des Hemds arbeiten und seinen Status stärken.
***
Im Fremdensprachenunterricht scheinen die ukrainischen
Kinder auch das Wort „Stickerei“ zu lernen. Eine junge Frau, die nicht so gut Englisch
spricht, erzählte mir an meinem zweiten Tag in der Stadt von „embroidement“. Natürlich
trug sie auch eins.
Samstag, 2. Juni 2018
Mon chéri
Außen sind die Namen französisch (mon chéri, charme), die Bezeichnungen
englisch (nail studio, brow bar, make up, lazer). Die Namen erinnern an die Ferne,
drinnen werden jedoch keine Fremdsprachen gesprochen.
Maria, die auf deren gute Qualität schwört, nahm mich an diesem Tag mit. Vom
Bildschirm ertönte laute lateinamerikanische, englische und ukrainische Popmusik,
jedoch keine russische. Den SängerInnen und TänzerInnen merkte man an, dass sie
viel Zeit an einem solchen Ort verbringen: im Schönheitssalon.
***
Es ist schön, ein Salon in vielen Städten zu haben, allein der Beobachtungsmöglichkeiten
wegen. „Du gehst oft in den Schönheitssalon?“ fragte Maria. „Nein. Eigentlich kenne
ich bloß Friseursalons.“ „Friseure – Taxifahrer auch – sind wie Soziologen, gute
Beobachter“, ergänzte ich.
Eine Ausbildung als Friseurin steht mir noch bevor. Im Moment bin ich aber als
Soziologin unterwegs. Zu meinen bisherigen Beobachtungen kann ich Folgendes
berichten: Bei meinem Friseur in Erfurt, in unmittelbarer Nähe zur Altstadt, kriegt
man zum Kaffee einen anständigen Haarschnitt und -Farbe. „Bleaching“ und
„ombré“ macht die Chefin prinzipiell nicht, aus ethischen Gründen – „es macht
die Haare ganz kaputt,“ beteuert sie. Sie ist sowieso nicht darauf angewiesen,
denn Kundschaft hat sie genug.
In Montréal schneidet mein Friseur die Haare schnell und gut, tendenziell aber
etwas zu kurz. Es ist, als ob das unausgesprochene Motto der Erfurter
Friseurin, „nicht zu viel, nicht zu wenig“ hier nicht gelten würde. Und in Lwiw?
Ist man in einem Salon angemeldet, kriegt man dort alles gemacht: Haare, Nagellack
samt Design, Augenbrauen, Makeup, Wimpern – Maniküre und Pediküre
selbstverständlich auch – und bestimmt noch andere Angebote, die mir noch nicht
bekannt sind.
Maria lässt sich die Nägel in einem dezenten Rosa lackieren, an einem
Finger lässt sie Blitzer malen, „un petit extra“, wie auch ein Salon genannt
werden könnte. Ich sehe zu, während ich der Soziologie zur Liebe auch
meine Nägel lackiert bekomme.
***
Linke Hand, rechte Hand. Ob Männer auch hierherkommen, will ich von der
Nagelexpertin wissen. Es wird im Salon laut gelacht und geredet, ich verstehe
nicht alles. „Nein, nicht, ob Männer deinen Beruf ausüben, ob es auch männliche
Kunden gibt?“ „Ach so! Manchmal kommen schöne Männer aus der Türkei oder
Italien, unsere nicht,“ antwortete Natalia während Maria ein Gesicht machte, als
ob es ganz hoffnungslos sei. Von Männern erwarten die Frauen im Salon wenig. Ihre
chéris sollten „akуpatни“, gepflegt, sein. Abgesehen vom kurzen
Haarschnitt und sauberem Hemd scheinen Männer wenig in die Schönheitsindustrie
zu investieren. Die meisten Anstrengungen gehen wohl in eine bestimmte Körperhaltung,
die ich noch nicht genau beschreiben kann.
Rechte Hand, linke Hand. „Stört dich die Musik nicht?“ frage ich Natalia
weiter. „Was? Nö!“ erwidert sie etwas verblüfft. Die Songs wiederholen sich und
SängerInnen und TänzerInnen entsprechen nicht dem Kanon der political
correctness. Tomasz, der Ethnologe aus Polen, der hier forscht und mit mir
Notizen austauschte, bemerkte zum Thema Schönheit, dass es in den letzten Jahren
in der Stadt anders geworden sei. Die Röcke seien z.B. länger geworden. Jenseits
des internationalen Trends mag die Länge der Röcke – sowie die Beliebtheit der Sneakers
und flachen Sandalen – als Indiz für einen sozialen Wandel in den
Geschlechterverhältnissen und für mehr Bewegungskomfort gedeutet werden.
***
Bei allen möglichen Schönheitskanons und der Ambivalenzen ihrer
Institutionen gegenüber ist der Salon in Lwiw eine Oase, eine kleine Kur vom
Alltag. Klar geht es um soziale Erwartungen in der Schönheits- und Musikindustrie,
aber auch um mehr. Dort geht man oft mit einer Freundin hin, nimmt sich Zeit,
tut was für sich. Letzten Endes steckt im Wort Maniküre oder Pediküre auch das
Wort „Kur.“ Manchmal lässt man sich auch beraten. Eine Friseurin empfahl mir mal,
meine Haare nicht zu kurz zu schneiden. Sie sah, dass ich an dem Tag traurig
war und riet mir von einer allzu raschen Veränderung ab.
***
Beim Rausgehen ertönte noch die Musik und die Tänzer wurden nicht müde. Beim
Zahlen schaute die heilige Maria auf uns. Es ging, etwas leichter, wieder in den Alltag.
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