Sie sitzt im 8:56 Uhr Zug auf der
Strecke Krakau – Przemyśl, auf dem Weg nach Lwiw. Zwei Männer mittleren Alters
betreten das Abteil. Sie riechen nach Alkohol; Bier haben sie sich mitgebracht.
Ich würde mich gern mit ihnen unterhalten, aber die Körpersprache der Frau –
die sich sofort mit mir als ihresgleichen verbündete –, verbot es eindeutig. Als ich kurz eingenickt war, sind die Männer wohl ausgestiegen. Wir haben
das Fenster aufgemacht.
***
Taras ist ein pensionierter Polizist.
Wir sind uns zufällig begegnet und sahen uns ein paar Male danach wieder – in
Lwiw trifft man sich häufiger wieder. Er pflegt abends in Bars mit Freunden
zu sitzen. Wenn er mich erblickt, sagt er: „Ich bin betrunken!“ oder „I’m
drunk!“, wohl abhängig davon, ob er gerade an seine Stationierungszeit in der
DDR oder an seine mehrfachen Besuche bei seinen Kindern in Kanada denkt.
In Gesellschaft gleichaltriger Männern
verbringt Taras die Abende bei Wodka und Bier. Einer dieser Männer, Roman,
spricht Polnisch, und wir können uns mehr unterhalten. Lwiw ist schön, die
Linden duften, ob ich verheiratet bin. Auch irgendetwas über seine Prostata
erzählt er – eine Erklärung, warum er weniger als die anderen Anwesenden
trinkt? Ich gebe zu, ich habe es nicht recht verstanden. Sprachverwirrungen – er fällt ins
Ukrainische, ich bin der Sprache nicht mächtig – und Alkohol waren im Spiel,
aber irgendwie ist Kommunikation diesmal möglich. Ich wechsle das Thema und
erkundige mich, worüber sich die Männergesellschaft unterhält. Er nuschelt etwas
über die Revolution. „Jaka?“ [welche?], „październikowa“
[Oktober]. „Ach so...“
***
Im Deutschunterricht an der
Iwan-Franko-Universität erzählen die Studierenden über ihr Leben: Das
gemeinsame Wohnen mit Eltern und Geschwistern und rauschende Hochzeitsfeste sind wiederkehrende Themen. Ich frage: „Was findet ihr
komisch, wenn ihr durch die Straßen geht?“ „What?“, sie wechseln ins Englische, „What is weird, strange? „People wearing oversized clothes or people with
dreadlocks, you know“. „Und die Alkoholiker auf öffentlichen
Plätzen?“, will ich wissen. „No!“ kam es gleich einstimmig wie aus der Pistole
geschossen. „This is normal, just like the old ladies pushing their way into the tram“. Wie für meine
Mitreisende im Zug scheinen die Trinkenden für die Studierenden nicht
außergewöhnlich oder verpönt zu sein, sie sind aber kein Teil davon.
***
Ganz anders in Erfurt, wo ich aktuell
eine Studie durchführe. Temperentia sei eine Chiffre der Moderne,
so schrieb mir ein Professor nach der Lektüre eines von mir verfassten Artikels
gleichen Namens. Darin ist die Rede von Bodenständigkeit und von einem Ethos
des Maßhaltens: nicht zu viel, nicht zu wenig. Seit ich diese Tendenz
beobachtet habe, wundere ich mich oft, wo die Leute, die die Frauen von der
KoWo [Kommunalen Wohnungsgesellschaft] in den späten 1990er Jahren fast
liebevoll „unsere Alkoholiker” nannten, alle hingegangen sind. Sind sie an
den Folgen ihres Konsums gestorben? Oder aus der Stadt verdrängt worden?
Vielleicht sind die Leute, oft Paare, die Seite an Seite mit Ellbogen auf
Kissen aus dem Fenstern guckten – erinnern Sie sich noch? – deshalb kaum noch
zu sehen, weil es auf der Straße nichts mehr zu schauen gibt.
Bei dieser Entwicklung und bei aller
Mäßigung ist es interessant, dass nun ein Alkoholverbot auf öffentlichen
Plätzen in Erfurt und woanders eingeführt wird. Vielleicht ist die Zahl der
Alkoholiker indirekt proportional zu der Aufregung, die
sie verursachen: Je weniger sie sind, desto deutlicher sieht man
sie und heftiger diskutiert man über sie.
Kann sein, dass Lwiw ein ähnliches Schicksal
erfährt und dass man den Wandel der Stadt an diesen kleinen Indizien eben festmachen
kann.
***
Keine Bange, zu viel habe ich im
Lwiw nicht getrunken. OK, außer vielleicht einmal. Zu viel über Alkohol zu
schreiben ist sowieso nicht bodenständig, das hat mal ein Gymnasiallehrer aus
Jena mir gegenüber angedeutet. Über die neue Polizeireform in der Ukraine oder die
Oktoberrevolution hatte Roman, der Polizist, keine Lust, sich mit mir zu
unterhalten. Schade. Ich hätte gerne etwas dazu geschrieben. Die schönen
Gebäude, der aromatische Duft der Linden – dazu komme ich noch.
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