Sonntag, 24. Juni 2018

Kleine umgehängte Taschen


Taschentücher – alte und neue –, Portemonnaie, Schlüsselbund, Fahrkarte, Notizbuch, Handy, Eyeliner, Loratadin, USB-Sticks, Einkaufsliste, Kopfhörer, Taschen in der Tasche (Einkaufstasche, Hundetüten), ein Exemplar des Watch Towers, das mir geschenkt wurde. Neben Krümeln ist es das, was ich fand, als ich meine Handtasche entleerte. Kleine Talismane habe ich gerade nicht gehabt, dafür müsste ich einen Blick in meinen Kulturbeutel werfen.
Typisch Frauen? Möglich. Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat ein Buch über Taschen geschrieben (Le sac. Un petit monde d’amour. Paris, J.-C. Lattès, 2011). Er lässt Frauen über ihre Taschen und deren Inhalt reden und entdeckt vieles im Alltäglichen. Männer interessieren ihn dagegen weniger. Wenn sie überhaupt eine Tasche besitzen, erzählten sie wenig oder Funktionales, trügen sie sowieso wenig bei sich. Hätte Kaufmann seine Studie in Lwiw anstatt in französischen Städten durchgeführt, hätten auch Männer Eingang in sein Buch finden müssen.
In Lwiw tragen fast alle Männer eine Tasche und dass unabhängig –
wie es mir scheint – von Alter und Klassenzugehörigkeit. Während bei Frauen eine gewisse Vielfalt anzutreffen ist, herrscht bei Männern Einseitigkeit: Die Taschen sind klein und eckig, meist schwarz, aus Stoff oder Leder. Sie werden umgehängt und fallen auf die Hüfte, links oder rechts. Touristen aus anderen ukrainischen Städten haben oft zwei, der Kamera wegen. Wenn man sich alte Bilder anschaut, gleichen die kleinen Taschen den Hüten, die Männer früher anhatten. Damit werden sich visuelle Soziologen der Zukunft sicher beschäftigen.


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Wenn die Kulturgeschichte der Männertaschen noch zu schreiben ist, steht bereits fest: Sie waren nicht immer da; sie sind wohl erst in den 2000er Jahren aufgetaucht; sie haben Plastiktüten verdrängt, damit verkörpern sie einen gewissen Wohlstand; Spezialgeschäfte haben zunehmend Konjunktur, denn Frauen – die sie meistens kaufen – streben nach Leder und vermeiden den Bazar.
Schriebe man ihre Geschichte, bekämen die Männertaschen vielleicht mehr Glamour. Irgendwie sind sie traurig, hilflos, farblos. Kleine traurige Taschen: Sie sind so gegenwärtig und normal, dass sie keine Beachtung finden. Einen eigenen Namen haben sie noch nicht einmal – man sagt einfach „сумка“, Tasche. Als ich mich über sie erkundigte, musste ich erklären, welche Tasche ich im Sinn hatte. Anna, um nur ein zufälliges Beispiel zu nehmen, nahm einfach die Tasche ihres Ehemannes, machte sie auf und zeigte mir ihren notdürftigen Inhalt: eine Brille, etwas Geld, einen Schlüssel.
Praktisch, rein funktional seien die Taschen. Sie enthalten kein Geheimnis – wer würde auch etwas Intimes reinstecken, wenn andere Zugriff auf deren Inhalt haben? So gesehen könnten die Taschen durchsichtig sein. Das ist bei Frauen anders: Ein mir bekannter Mann hat mal im Supermarkt die Handtasche seiner Frau aufgemacht und einen Scheidungsbrief gefunden, der sein Leben auf einen Schlag verändern sollte.
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Auf die Frage „Hast Du keine umgehängte Tasche?“, erwiderte Ignacy, ein polnischer Kollege und Kenner der Ukraine, dass er keine habe. Er wusste sofort, worum es ging. Sie seien, fügte er sachlich hinzu, eigentlich unpraktisch: sie böten nicht genug Platz für einen Computer und seien somit nur zu solchen Zielen brauchbar, wo nur mehr als ein Portemonnaie benötig werde.
Ich vermute sogar, dass die Taschen nicht selten leer sind. Das Handy ist hier in Lwiw so oft im Einsatz, dass es sich wahrscheinlich nicht lohnt, es überhaupt in die Tasche reinzustecken. Wenn nicht am Ohr, hält man es besser in der Hand oder steckt es in die Hosentasche. Wenn Sie Beweise brauchen, weilen Sie einige Minute in einer Parkanlage. Sie werden sie beobachten: Abdrücke von Portemonnaies und Handys in den hinteren oder vorderen Hosentaschen. Und um einen Regenschirm zu beherbergen, wären die Taschen sowieso zu klein.
Warum legt man eine Tasche um? Warum trug man einen Hut bis in die 1950er Jahre? Aus Konventionen, weil es sich so gehört, weil es halt so ist. Frauen wollen das oft nicht glauben und beharren auf die Funktionalität der Tasche: „Was machen bloß die Männer ohne Tasche? Wie geht das überhaupt?“ Schaut man auf Deutschland, sieht man – je nach Klassen, Berufsgruppen und Alter – Alternativen: die Taschen der beigen Westen, die bei manchen Männern vorgerückten Alters auffällig sind, die Taschen von Cargo-Hosen, die Innentasche vom Anzug, der Rucksack oder, ja meine Damen, ihre Tasche.



Gibt es Hoffnung auf ein glänzenderes Dasein der Taschen? Sie mögen als Modeartikel aufgewertet werden. So erblickte ich einige Exemplare auf der Straße und auf Modenschauen. Sie werden auch umgehängt, aber anders – ein Zeichen eines neuen Bewusstseins von Männern, das besser über Funktionalität transportiert wird.



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