Ich bin es, Mychajlo
Hruschewskyj*. Nach mir wurde – zumindest inoffiziell – der Platz, wo ich gerade
sitze benannt,
um
meinem Wirken als Historiker der Ukraine, Wissenschaftsförderer und erster Präsident unseres
Landes zu gedenken. Früher war hier der Dramaturg Graf Aleksander Fredro ansässig. Er ist aber nach dem Krieg, dem
zweiten, nach Wrocław gezogen.
In der Stadt wohnen auch viele andere
Kollegen aus künstlerischen und intellektuellen Kreisen: Poeten,
Schriftsteller, Maler, Sänger, Politiker, fast alle Männer, fast alle Ukrainer.
Der alte Adam [Mickiewicz, Anm. d.
Ü.] ist zu schwer, um sich bewegen zu können. Vor ihm holen
heutige polnische Touristen einen komischen Stab aus ihren Taschen, befestigen
einen seltsamen kleinen Apparat drauf, stellen sich vor ihn und verziehen den
Mund. Fragen Sie mich nicht, wieso sie sowas machen. Bei mir passiert
derartiges nicht. Zum Glück! Stattdessen werden frische Blumen regelmäßig
gebracht. Dafür sorgen meine guten, braven Dienstleute.
Es schmerzt mich, dass manche Zeitgenossen
vorbeigehen, ohne zu grüßen. Trügen sie noch Hüte, würden sie ihn vielleicht
leicht ziehen. Man kennt mich aber, heute noch. Ich bin in zweierlei
Hinsicht eine Referenz: als nationale Figur und als Treffpunkt. Männer und
Frauen sagen nicht, „wir treffen uns südlich vom Marktplatz“, sondern „wir
treffen uns beim Hruschewskyj“. Das mag familiär klingeln, dennoch: Wenn sie
der Fremden erklären, wer ich bin, betonen sie mit einem gewissen Stolz „unser“
erster Präsident, der von 1917.
Als ich noch jung war, bin ich viel
gereist, z.T.
zwangsweise. Viel habe ich gearbeitet, unheimlich viel geschrieben, vor allem als
Professor, hier in dieser Stadt. Seit
der wiedergewonnenen Unabhängigkeit unseres Landes bin ich wieder hierhergezogen. Seit 1994 habe ich mich nicht mehr groß bewegt, ich habe
mich sozusagen da „hingesetzt“ und pflege, Zeitung zu lesen. Manche behaupten,
ich sei etwas steif geworden, aber man bewegt sich im Alter bekanntlich
weniger.
Mein
Viertel ist kein schlechtes. Ich bin zwar nicht vor der Oper oder am Rynok,
aber immerhin nicht weit vom Zentrum entfernt. Eigentlich bin ich am richtigen
Ort, direkt an der „Akademika-Str.,“ entschuldigen Sie, ich meine die Schewtschenko-Str.
Ach du meine Güte, wie oft wurden all die Straßennamen geändert! Hier
habe ich als Professor, Mitglied
und Präsident der Wissenschaftlichen
Schewtschenko-Gesellschaft gewirkt. Auch zur
Sowjetzeit wohnten hier Akademiker. Und die nationale Bibliothek ist heute noch in unmittelbarer Nähe. Es zu wissen, behagt
mich.
Direkt am Platz ist ein
neues, hässliches Gebäude. Zum Glück ist es hinter mir.
Ich muss es mir nicht anschauen – einen steifen Hals würde ich davon bestimmt
bekommen. Vor dem
Platz gibt es, wie es mir scheint, viele Neureiche: Juweliergeschäfte,
Designerboutiques, Restaurants und Hotels.
viele
Neureiche: Juweliergeschäfte, Designerboutiques, Restaurants und Hotels. Es
wird tagsüber laut telefoniert, abends werden rauschende Feste gefeiert,
manchmal trauen sich einige Touristen bis hierher, jenseits vom Marktplatz. Egal was passiert: Am nächsten Tag sind
sie da. Meine guten, braven, treuen Leute. Stets
stehen sie früh auf und sorgen, unauffällig, für Ordnung.
*1866-1934
**Fotos, Center for Urban History
**Fotos, Center for Urban History
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