Die Menschen in Lwiw gehen eher spät ins Bett. Deshalb wissen viele nichts von ihnen. Sie hören sie vielleicht, noch im Schlaf: tse, tse, tse. Sie kehren die Straßen mit Besen aus Holzzweigen, wie es diese schon zu meiner Zeit gab. Es sind Hunderte, die jeden Tag in aller Frühe Papierschnitzel, Zigarrenstummel und allerlei Abfälle wegfegen, wichtige Orte mit frischen Blumen schmücken und an bestimmten Tagen blaue und gelbe Flaggen an den Masten der Häuser anbringen. Ihre orangefarbenen Westen sind nicht so elegant, aber was soll’s. Von meiner Warte aus beobachte ich sie. Es sind meine Dienstleute, meine guten Leute.
Ich bin es, Mychajlo Hruschewskyj*. Nach mir wurde – zumindest inoffiziell – der Platz, wo ich gerade sitze benannt, um meinem Wirken als Historiker der Ukraine, Wissenschaftsförderer und erster Präsident unseres Landes zu gedenken. Früher war hier der Dramaturg Graf Aleksander Fredro ansässig. Er ist aber nach dem Krieg, dem zweiten, nach Wrocław gezogen.
In der Stadt wohnen auch viele andere Kollegen aus künstlerischen und intellektuellen Kreisen: Poeten, Schriftsteller, Maler, Sänger, Politiker, fast alle Männer, fast alle Ukrainer. Der alte Adam [Mickiewicz, Anm. d. Ü.] ist zu schwer, um sich bewegen zu können. Vor ihm holen heutige polnische Touristen einen komischen Stab aus ihren Taschen, befestigen einen seltsamen kleinen Apparat drauf, stellen sich vor ihn und verziehen den Mund. Fragen Sie mich nicht, wieso sie sowas machen. Bei mir passiert derartiges nicht. Zum Glück! Stattdessen werden frische Blumen regelmäßig gebracht. Dafür sorgen meine guten, braven Dienstleute.
Es schmerzt mich, dass manche Zeitgenossen
vorbeigehen, ohne zu grüßen. Trügen sie noch Hüte, würden sie ihn vielleicht
leicht ziehen. Man kennt mich aber, heute noch. Ich bin in zweierlei
Hinsicht eine Referenz: als nationale Figur und als Treffpunkt. Männer und
Frauen sagen nicht, „wir treffen uns südlich vom Marktplatz“, sondern „wir
treffen uns beim Hruschewskyj“. Das mag familiär klingeln, dennoch: Wenn sie
der Fremden erklären, wer ich bin, betonen sie mit einem gewissen Stolz „unser“
erster Präsident, der von 1917.
Als ich noch jung war, bin ich viel gereist, z.T. zwangsweise. Viel habe ich gearbeitet, unheimlich viel geschrieben, vor allem als Professor, hier in dieser Stadt. Seit der wiedergewonnenen Unabhängigkeit unseres Landes bin ich wieder hierhergezogen. Seit 1994 habe ich mich nicht mehr groß bewegt, ich habe mich sozusagen da „hingesetzt“ und pflege, Zeitung zu lesen. Manche behaupten, ich sei etwas steif geworden, aber man bewegt sich im Alter bekanntlich weniger.
Mein Viertel ist kein schlechtes. Ich bin zwar nicht vor der Oper oder am Rynok, aber immerhin nicht weit vom Zentrum entfernt. Eigentlich bin ich am richtigen Ort, direkt an der „Akademika-Str.,“ entschuldigen Sie, ich meine die Schewtschenko-Str. Ach du meine Güte, wie oft wurden all die Straßennamen geändert! Hier habe ich als Professor, Mitglied und Präsident der Wissenschaftlichen Schewtschenko-Gesellschaft gewirkt. Auch zur Sowjetzeit wohnten hier Akademiker. Und die nationale Bibliothek ist heute noch in unmittelbarer Nähe. Es zu wissen, behagt mich.
Direkt am Platz ist ein
neues, hässliches Gebäude. Zum Glück ist es hinter mir.
Ich muss es mir nicht anschauen – einen steifen Hals würde ich davon bestimmt
bekommen. Vor dem
Platz gibt es, wie es mir scheint, viele Neureiche: Juweliergeschäfte,
Designerboutiques, Restaurants und Hotels. Es
wird tagsüber laut telefoniert, abends werden rauschende Feste gefeiert,
manchmal trauen sich einige Touristen bis hierher, jenseits vom Marktplatz. Egal was passiert: Am nächsten Tag sind
sie da. Meine guten, braven, treuen Leute. Stets
stehen sie früh auf und sorgen, unauffällig, für Ordnung.
*1866-1934
**Fotos, Center for Urban History
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