Bei mir im Viertel,
unweit vom Präsidenten [siehe Der versteinerte Präsident] sind sie da: die
kopflosen Frauen.
Sie stehen den ganzen Tag an der Iwan-Franko-Straße und warten auf
Kundschaft. Sie tragen stets weiß. Naja, vielleicht nicht ein ganz sauberes
weiß. Es kann nicht anders sein: Es ist eine viel befahrene
Straße, die Autos sind oft alt, es ist verschmutzt. Hätten sie einen Kopf
würden sie husten. Eine Petition gegen Diesel können sie nicht unterschreiben,
denn Arme haben sie auch nicht.
Es sind so viele! Es gibt zwar auch welche woanders in der Stadt, aber hier
befinden sie sich in einer Menge konzentriert. Die Straße ist dafür
bekannt. Die Masse steht hier wohlgemerkt nicht für billig. Nein. Hierher kommt
man auch zum Schauen, bevor man kostengünstigere Varianten im Internet bestellt.
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Kopflose Gestalten findet man auch in Geschäften. Sie sind absolut sauber,
makellos. Bei aller Vielfalt – mit Spitze (im Trend), Steinen (klassisch), Pailletten
(glänzend), gestickt (traditionell) oder seltener mit Perlen geschmückt – sind
sie stets lang (es muss sein). Eines fand ich hübsch. Es kostete 10 000 грн – etwa 325 Euros
–, viel Geld für die hiesigen Gehälter.
„Wann kommen sie zum Einsatz?“ frage ich die Verkäuferin, die nach ihnen Ausschau
hält. Man schließt bekanntlich den Bund der Ehe nicht so oft. „Auf Geburtstagen,
Familienfeiern, Bällen“ ist ihre schlichte Antwort. Ach so, vielleicht wollen sie
einmal, ein einziges Mal, getragen werden, wohl wissend, dass sie auf Fotos
verewigt werden.
Im Geschäft sind wir – meine Begleiterin und ich – allein. Die
Verkäuferin sagt, es sei nicht die Saison. Wir kaufen auch keine. Auf Bälle
werden wir nie eingeladen und einen Blog zu schreiben, führt selten auf den roten
Teppich.
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Die kopflosen Frauen sind alle so schlank. Meine
Begleiterin macht sich Sorgen um die stabileren Frauen. Sind sie gar nicht
vertreten? Und was ist mit Schwangeren – davon solle es so viele geben? Nach
langer Suche, kommen wir ihnen auf die Spur: Sie befinden sich zwar nicht auf
der Straße, im Schaufenster oder im „Showroom“, sondern in den hinteren Boutiquen
und in den Kellern der langen Höfe. Da, vor neugierigen Blicken geschützt, werden
sie justiert, breiter gemacht, angepasst.
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Es ist wahrhaftig eine Industrie. Ein Blick auf die Straße reicht, um es sich
zu vergegenwärtigen. Die kopflosen Frauen ziehen Geschäfte nach ihnen: Schuhen,
Blumen, Tischdekorationen, Fotoateliers.
Und ihre Männer? Hier sind sie weit und breit nicht zu sehen. „Vielleicht
sind sie gerade anderswo, in eigenen Geschäften?“ wage ich als Erklärung. Meine
Begleiterin scheint daran zu zweifeln. Sie schaut mich an und verdreht die
Augen.
1 Kommentare:
Toll geschrieben!
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