Dienstag, 21. August 2018

Die Krim-Bar

Einmal war ich schon da, mit Freunden aus Polen. Sie liegt in einer Seitenstraße, unweit von meiner Wohnung. Weil es nur Wein gab, wollte einer der Freunde nicht bleiben. Seit er nicht mehr trinkt, ist ihm das Angebot an Wasser und allerlei Getränken wichtig.

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Ich ging nochmal hin, diesmal mit Marie. Uns behagte die Bar sehr. Sie ist klein, etwas dunkel; die Wand hinter der Theke scheint mit Fässern tapeziert zu sein. Wir setzten uns auf Hocker an einen runden Tisch und bestellten Wein, dessen Name uns fremd war.

Dienstag, 14. August 2018

Der, da oben



Abends auf dem Nachhauseweg hörte ich: „Hey Barbara!“ Ein Bekannter aus Deutschland stand mit ausgestreckten Armen an der Straßenecke. Es war eine schöne Überraschung. Mit seiner Familie tranken wir roten Schnaps und verabredeten uns für den nächsten Morgen an einem Ort in der Altstadt, wo er als Kind gewohnt hatte. 
           In den letzten Wochen habe ich viele Lebensgeschichten gehört. Oft ging es um die Kindheit meiner Gesprächspartner, und um die Balkons der Altstadt, die die Wohnungen einer ganzen Etage in den inneren Höfen verbinden. So sei es auch bei meinem Bekannten gewesen: Als Kind sei er auf den Balkonen des Hauses Fahrrad gefahren und habe mit anderen Kindern gespielt. In den Erzählungen wird dann mitunter erwähnt, dass manche Hausbewohner irgendwann in den 1990er Jahren weg waren. Die Hausgemeinschaft erfuhr, dass sie nach Israel, Deutschland, Kanada ausgewandert waren. Das sei das Ende der Idylle auf den Balkons gewesen. Manche blieben, wie die Mutter meines Bekannten aus Deutschland. Er selbst ist später gegangen. Weg ist er aber doch nicht ganz. Auswandern heißt lange nicht, dass man sich nicht mehr bewegt. Im Gegenteil.* Mein Bekannter, der sich selbst gern „der Lemberger“ nennt, ist mit der Stadt sehr verbunden, identifiziert sich stark mit ihr und beschäftigt Landsleute in seiner Firma an der deutsch-polnischer Grenze.

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Wenn ich mit Menschen in Lwiw zusammenspazieren gehe, bieten sie mir private, inoffizielle Führungen durch die Stadt. Wir trinken meistens zuerst Kaffee und die Wahl des Kaffeehauses sagt mir einiges über den Eindruck, den sie mir vermitteln wollen (intellektuell, „authentisch“, angesagt). Mit dem Lemberger ging es von der Altstadt in nördliche Richtung, links vom alten Marktplatz. Dort gibt es erstaunlich viele Kinderspielplätze. Man muss kein Detektiv sein, um daraus abzuleiten, dass dort jüdische Gebetshäuser und Schulen gestanden haben. Gedenktafel auf ukrainisch und englischweisen darauf hin. Mein Bekannter machte mich darauf aufmerksam, dass das Wort Synagoge von den Tafeln weggekratzt war. Auf meine Frage, ob er selbst schon Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht habe, gab er mir aber eine negative Antwort.
Auf seinem Smartphone hatte mein Bekannter Fotos von früher, vor dem zweiten Weltkrieg. Wir versuchten, die geknipsten Orte wiederzufinden. Der Spaziergang führte uns in die Vuhilna-Straße. Als der Lemberger sich anschickte, etwas zu sagen, machte ein Herr vorgerückten Alters die Tür eins heruntergekommenen Gebäudes auf. Nach kurzer Unterhaltung traten wir herein. An den Wänden des Hauseingangs waren Fotos und Plakate geklebt, die auf Projekte, Ausstellungen, Kooperationen eines jüdischen Kulturzentrums erinnern. Es war eine schöne Überraschung.
Es wurde eine Mischung aus Russisch, Ukrainisch und Deutsch geredet. Die zwei Männer kannten sich. Naja, der Ältere kannte die Mutter des Jüngeren. Informationen wurden ausgetauscht, eine Zeitung geschenkt, Postkarten rausgeholt. Zwischendurch wurde rumtelefoniert und Fotos gemacht und ich wusste schon, dass ich mich später auf Facebook wiederfinden würde. So ist es eben in Lwiw – ich will gar nicht kritisch sein. Facebook sei hier etwas Besonderes, Politisches, und wenn hier Katzenfotos gepostet werden, dann oft zum Schutz der Tiere (siehe Die Katzenfrau).
Während die beiden Männer sich unterhielten, inspizierte ich das Gebäude. Während meiner Runde erblickte ich eine schöne Überraschung: die unerwartete, helle, wunderschön heruntergekommene Gebetshalle der früheren Synagoge.
Als die zwei Männer zu mir kamen, erfuhr ich, dass das Gebäude 1844 errichtet wurde, und erst als Gebetshalle, dann als Lager und später als Turnhalle benutzt wurde, bevor es zur Zeit der Perestroika ein Kulturzentrum wurde und 1991 in die Hände von jüdischen Organisationen überführt wurde. Bei aller Dankbarkeit für die Informationen hätte ich gern den Anblick auf die Gebetshalle ein bisschen länger genossen. Es war ein kurzer Moment der Transzendenz, der durch den in der Halle liegenden Krempel noch verstärkt wurde. Dass die Halle, wie die Stadt überhaupt, auf Renovierung wartet, scheint noch zu ihrer besonderen Schönheit und Kraft beizutragen. (Foto: frühere Jakób Glanzer Synagoge)

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Beim Abschied küsste mich der ältere Herr und mein Bekannter machte noch schnell ein Foto. Als wir wieder in den Alltag der Altstadt eintraten, wunderten wir uns über die Überraschungen, die „der, da oben“ – der Lemberger machte einen Zeichnen mit der Hand, ich nickte – auf unseren Weg gelegt hatte. Wir setzten den Spaziergang kurz fort und beendeten ihn, wie er angefangen hatte. Mit einem Kaffee und einem roten Schnaps.


* Wie Anna Xymena Wieczorek in „Migration and (Im)Mobility. Biographical Experiences of Polish Migrants in Germany and Canada“ (2018) veranschaulicht.


Donnerstag, 9. August 2018

About Lviv // Snapshots of Ukraine 🌸


Meine 15-jährige Tochter war zu Besuch in Lwiw!
"About Lviv // Snapshots of Ukraine 🌸", ein Film von Noa Beschorner.

 



Samstag, 4. August 2018

Lemberg ist in Montréal



Wir trafen uns im Café, die Reporterin und ich. Sie fragte nach meinen Eindrücken von der Stadt. Ob die Stadt sich durch ihre Vielfalt kennzeichnete? „Heute ist sie sehr homogen“, war meine Antwort. Sprachlich gibt es eine gewisse Vielfalt, zwischen Ukrainisch und Russisch. Religiös etwa. LGTBT+ und andere Arte von Vielfalt, eher wenig. Die vielen Denkmäler, die überwiegend Männer und Ukrainer darstellen, bekräftigen diesen Eindruck (siehe „Der versteinerte Präsident“ https://stadtschreiberin-lemberg.blogspot.com/2018/06/der-versteinerte-prasident.html).
Die Vielfalt der Stadt scheint vielmehr in der Vergangenheit zu liegen. Nach Lemberg – oder Czernowitz – fährt man nicht hin: Man pilgert dorthin. Die Stadtverwaltung und private Unternehmer haben die Sehnsucht nach der Vielvölkermonarchie offenbar erkannt und geschickt vermarktet. Im Alltag wissen dagegen viele Menschen nichts davon oder sind schlicht mit anderen Sachen beschäftigt. Sie wissen nicht – ich leider auch noch nicht – wer alles in den von ihnen bewohnten Häusern früher gelebt hat. Aus diesem Grund habe ich bis zum heutigen Tag in diesem Blog über Lwiw, und nicht Lemberg, geschrieben.
Dank des hiesigen Museums „Territorium des Terrors“ (Територія Терору), des Centers for Urban History of East Central Europe und anderer Institutionen werden im Sommer Holzwürfel mit Informationstafeln zur Deportation von Juden und anderen Opfern der Nazi-Gewalt an vielen Orten der Stadt aufgestellt. Das ist gut.
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Überrascht war die Reporterin, als ich über die Hutchison-Straße und Montréal, die kanadische Stadt, in der ich lebe, erzählte: Dort spreche ich jeden Tag Französisch und Englisch. Jiddisch höre ich täglich. Es ist die Sprache der Chassidim, die in großer Zahl in der Straße und deren Umgebung wohnen. Viele ihrer Vorfahren sind am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem heutigen Belarus, der Ukraine und Russland gekommen.
Als ich meine Polnischlehrerin in Montréal – eine ältere Dame aus Schlesien – fragte, wie ich mir multikulturelle Städte Mittel- und Osteuropas vor dem Krieg vorstellen sollte, antwortete sie: „Sie brauchen sich nur hier im Viertel umzuschauen.“ Sie hatte recht: Im Alltag wechselt man oft die Sprachen, mal mit einer gewissen Unsicherheit, mal absolut ohne Hemmung. Ähnlich ist es mit der Geschichte der Gotteshäuser: Es gibt viele Synagogen, Tempel und Kirchen – das ukrainische Kulturzentrum meines Viertels war mal eine katholische Kirche, dann eine Synagoge. Seine Räume beherbergen heute eine jüdische reformierte Gemeinde.
In Montréal ist die Vielfalt Alltag, d.h. gelebt und insofern neu, und auch ein bisschen in der Vergangenheit geblieben. Musikalische und literarische Beispiele kann man anführen. So Paul Kunigis. Er ist Sänger und Musiker. Er bezeichnet sich als „katholischer Montrealer polnischer Herkunft, der jüdische Wurzel hat und in Israel groß geworden ist“ (https://paulkunigis.com/).* Er mischt Klezmer mit französischen Chansons und orientalischen Klängen. Seine Musik hat mit dem heutigen Polen oder Israel nicht viel zu tun. Das ist ihm bewusst. In Montréal hat er sein Publikum gefunden.
Wenn man die Stimmung der Romane von Joseph Roths sucht und sich dafür interessiert, was daraus geworden ist, dann sollte man Montréal besuchen.


*„Un montréalais catholique d’origine polonaise, d’ascendance juive, élevé en Israël dans un pensionnat dirigé par des frères jésuites français, je me suis retrouvé dans le pays de mon enfance en train d’enregistrer une chanson d’un juif polonais anglophone, de Montréal, descendant de la même ville que mon père, Vilnius en Lituanie, que j’ai traduit et adapté en français avec des arrangements à ma sauce, moyen/orientaux.“

Samstag, 28. Juli 2018

Instagrambeauties


An der Universität in Montréal wollte mal eine Fotografin ein Bild von mir machen. „Machen Sie bitte den Kopf gerade. Nein, gerade. Sie machen es immer noch.“ Als ich mich wehrte und behauptete, dass ich es nicht täte, erwiderte sie sachlich: „Doch, Frauen machen‘s, wenn sie fotografiert werden: Sie stellen den Kopf leicht zur Seite.“ Das hätte ich lieber nicht gewusst, denn seitdem sehe ich geneigte Köpfe überall.
Wenn sie bestimmt kein anthropologisches Universell ist, ist diese Gewohnheit mindestens Teil eines globalen Trends. In Lwiw gibt es sie auch, die geneigten Köpfe. Seit ich sie etwas widerwillig sehe, beobachte ich auch folgendes bei Laien-Fotoshootings: geschmollte Münder, sexy Augen, einen leicht gehobenen oder – wie bei einer Ballerina – gespitzten Fuß. Die Haare scheinen auch ganz wichtig zu sein. Es gibt eine besondere Geste, die Frauen machen, um die Haare auf die Seite zu schieben, aber ich steige noch nicht ganz durch. Auch diejenige, die diese Gewohnheiten belächeln, beherrschen oft selbst die Kunst des Haare-zur-Seite-schieben. Ob sie es merken? Nein, nicht immer, aber manchmal schon. Die Anleitungen zum Fotoshooting, die auf YouTube zu finden sind, deuten darauf hin.
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Wenn Lwiw eine Person wäre, wäre sie eine Instagrambeauty. Sie ist ja sehr fotogen, sehr vintage. Ihr Filter wäre „Crema“, ein warmes Gelb. Kein Wunder, dass die Stadt als Kulisse für Filme dient und zu diesem Zweck eine Kommission ins Leben gerufen wurde. Eine Konkurrentin ist Prag, eine andere „instagramble“ Stadt. Dort reisen Bräute und Bräutigame aus aller Welt hin, um ihre Hochzeitsfotos zu shooten. Lwiw ist in dieser Hinsicht noch nicht so international bekannt, aber nichtsdestotrotz wird viel geheiratet und reichlich fotografiert. Neben Paaren in der Altstadt sind schwangere Frauen im Strysky Park, Freundinnen auf dem Schewtschenko-Boulevard, glückliche Babys im Gras, junge Models in Türrahmen zu erblicken. Viele von diesen Fotos findet man später auf sozialen Medien.

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Bei öffentlichen Kulturveranstaltungen sind Kameras allgegenwärtig und live streams üblich: Wie in einem Spiegel kann sich das Publikum bei Lust und Laune selbst live während Veranstaltungen auf Telefone anschauen.
Überhaupt läuft, so kommt es mir zu mindestens vor, das Leben mehr online hier als in Montréal oder Berlin. Eingekauft wird viel im Netz, geflirtet wird mitunter über Klicks auf Facebook und Herzen auf Instagram. Sogar Drogen werden nicht auf der Straße verkauft, sondern online bestellt – die Internet-Adressen der Anbieter werden an Häuserwände mit Farben gesprüht.
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Es war mal ein kleines Hobby von mir: Ich machte Screenshots von Posts auf Facebook, von meinen Freude mit schmollendem Mund oder Kollegen mit leicht gehobenem Fuß. Nun werde ich auf Facebook getaggt, wenn ich hier an Veranstaltungen teilnehme. Mein Hobby ist keins mehr. Und oft muss ich an die Fotografin in Montréal und ihre Mahnung – „Machen Sie bitte den Kopf gerade“ denken. Es ist ziemlich anstrengend, ständig aufzupassen, dass der Kopf nicht geneigt ist.




Samstag, 21. Juli 2018

Zombie


Mit zwei Kollegen saß ich neulich in einem Café in der Altstadt Lwiws, da wo es die vielen Touristen gibt. Aus der Entfernung drang eine Melodie. Ich erkannte das Lied „Zombie“ von The Cranberries.
Während die Klänge ertönten, verlor ich kurz die Aufmerksamkeit; ich wurde wie in eine andere Zeit versetzt, über zwanzig Jahre zurück.
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Damals, in den 1990er Jahren, als „Zombie“ gerade in die Charts gekommen war und noch lange kein Klassiker der Popmusik war, schien das Leben irgendwie dramatischer, tragischer, auch improvisierter als heute. Die Wende war an der Grenze des Gestern, noch kein historisches Ereignis geworden; in Gesprächen war sie allgegenwärtig.

Das 1990er-Jahre-Gefühl, dass das Lied in mir hervorrief, empfinde ich auch in Lwiw heute. Die Melodie mischt sich mit vielfältigen sinnlichen Erfahrungen: dem Blick auf den dekadenten Charme der unrenovierten Altenbauten, dem architektonischen Erbe des Kommunismus und einem bestimmten Geruch. Er kommt vom Gebrauch von alten Autos, nicht von der Braunkohle. Weil sie hier ganz fehlte, haben die Gebäude der Stadt ihre sanften Farben erhalten.
Die 1990er Jahre sind in Lwiw nicht nur sinnlich wiedererstanden: Auch im Diskurs sind sie präsent. Die Intellektuellen der Stadt konstruieren noch das Erbe der Revolutionen, da wo sie anderswo abgelebte Epochen, historische Wirklichkeit bilden.
Weil ich den Wandel selber miterfahren habe, werde ich das Gefühl irgendwie nicht los, dass das Leben hier nicht so bleiben kann. Anders ausgedrückt: Es ist schön, hier zu sein, bevor sich alles ändern könnte. 

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Beim Abschied im Café schenkte mir ein Kollege eine CD. „Klassische Musik oder Jazz?“ fragte er. Ich nahm Jazz – klassisch gewordene Popmusik hatte er nicht dabei. Auf meinem Heimweg hörte und erblickte ich sie: Die junge Frau, die allein an einer Straßenecke, unter den an ihr vorbeihuschenden Touristen, Gitarre spielte. Sie stimmte abermals den bekannten Refrain an: „In your head, in your head, zombie, zombie, zombie, ei, ei…“ Ohne dass es ihr bewusst war, brachte sie Epochen und Sehnsüchte zusammen; sie ließ die 1990er Jahre wiedererwachen.




Donnerstag, 19. Juli 2018

„C’est étrange!“


Die Katzenfrau

Sie hat eine Mission, einen wichtigen Auftrag zu erfüllen: Sie füttert die herrenlosen, herumstreunenden Katzen der Stadt. Auch sorgt sie dafür, dass sie kastriert werden und gesund bleiben. Eine Chronik zum Tierschutz beim lokalen Radiosender hat sie gehabt. Sie ist die Katzenfrau Lwiws.
Zuhause kann sie die Allergiker unter den Soziologen nicht empfangen, denn Katzen hat sie in der Wohnung viele, über zwanzig wird spekuliert.

Wir treffen uns an einem geheimen Ort. Dort pflegt sie neun Katzen. Ich verrate den Namen des Ortes nicht, da ich der Katzenfrau keinen Schaden zufügen möchte. Auf einen Spendenaufruf verzichte ich damit ebenso. Die Katzenfrau wird nämlich oft erpresst. So soll eine Frau sie angerufen haben und sie bedroht haben: „Ab Morgen bin ich in Rente. Ich komme nicht mehr zum Ort XYZ. Wenn du die Katzen nicht fütterst, hast du sie auf dem Gewissen.“ Solche Bedrohungen bekäme die Katzenfrau öfter. Kein Wunder, dass sie nicht gerne ans Telefon oder an die Tür geht.
Wenn Sie sich vorstellen, dass die Katzenfrau komisch ist, irren Sie sich. Sie ist menschenfreundlich, offen, normal. Nur die Tasche mit Futter und Katzenleckerli mag sie verraten, und dass sie selten in den Urlaub fährt.

Die Kreuzfrau 

Aus dem Inneren der Kirche nimmt sie unseren Anruf entgegen. Sie kommt raus und erzählt von einer Mission, die es zu erfüllen gilt: Das Land vom Bösen zu retten. Zum Glück ist sie nicht allein. Es sind andere, die ihr zur Seite stehen. Sie ist die Kreuzfrau Lwiws.
Vor den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004 hat sie, zusammen mit Gleichgesinnten, ein Holzkreuz gebaut und es neben der Mutter Gottes – von der der Auftrag wohl kam – unweit vom Adam-Mickiewicz-Platz aufgestellt.
Seitdem sind viele Wunder und heroische Taten geschehen – das Kreuz wurde bis zum Maidan in Kiew transportiert, zum Teil auf dem Rücken getragen, irgendwann von Aktivistinnen abgesägt, später wieder aufgebaut. Dort soll es auch geblutet haben.
Heute sind die Unruhen im Land nicht ganz vorbei, aber es geht wieder einigermaßen. So ist die Kreuzfrau in der Kirche. Eine Katze hat sie bestimmt nicht, denn sie ist viel unterwegs, auch im Ausland: Sie pilgert von einem Ort zum Nächsten. Sie organisiert und fordert Menschen auf, mit ihr auf Pilgerreise zu gehen. Sie ist eine Unternehmerin des Glaubens.
Für diejenigen, die in der Stadt bleiben müssen, ist das Gelände um das Holzkreuz ein Mini-Pilgerort. Dort trifft man stets einzelne Männer mit Kurzhaarfrisuren und umgehängten Taschen sowie Frauen aller Haarlängen – je älter, desto kürzer. Sie stellen sich vor das Kreuz, beten und bekreuzigen sich; manche küssen es. Manchmal gibt es auch Gruppen, mit Flaggen und Megaphonen.

Eine Genehmigung von der Stadt gab es für das Kreuz wohl nie, aber wer würde schon auf die Idee kommen, es zu thematisieren? Sogar diejenigen, die an die Kraft des Kreuzes zweifeln, wollen das Schicksal nicht unbedingt herausfordern.
            Wenn sie sich vorstellen, dass die Kreuzfrau komisch ist, irren Sie sich. Sie ist eloquent, beschäftigt, normal. Sie redet viel und gerne. Nach einer bestimmten Zeit zieht sie schnell ein Tuch über den Kopf und geht mit raschem Schritt wieder in die Kirche, um einen höheren Anruf entgegenzunehmen.
                                                

Die Dichter

Wir laufen auf einer Straße in der Altstadt. Sie kennt alle, so kommt es mir vor. „Der da ist Dichter“, sagt sie, als ob es das Normalste der Welt wäre. Ein paar Minuten später passiert es zu meinem Erstaunen wieder: „Er ist ein Dichter aus Lwiw“. Und nochmals: „Sie ist eine wichtige Lyrikerin.“ Wir stehen und unterhalten uns noch mit einem Mann, der nebenbei erwähnt: „Ich habe damals ein Gedichtband veröffentlicht.“
Ich sitze bei einer Lesung und höre mir die Dichter an. Manche sind ziemlich pathetisch, aber es scheint nur mich zu stören. Es geht um das Land, die Sprache, auch um Religion. Die meisten Dichter sind allerdings modern und mit anderen Themen beschäftig; sie arbeiten nicht unbedingt mit Reimen. Bei aller Unterschiedlichkeit haben sie eine höhere Mission: Die Kunst, die Sprache. Wenn sie ihre Gedichte vorlesen, habe ich – wie bei der Kreuzfrau – manchmal den Eindruck, dass ich ihre mir noch unbekannte Sprache verstehe.
Sichtlich brauche ich Nachhilfe. Freunde und Bekannte wollen mir helfen. So bekomme ich eine große Zahl von Büchern, Sammlungen, schön gebunden, in vielen Sprachen übersetzt. Auf meinem Schreibtisch entsteht eine bunte Sammlung von Texten. Ich lese sie und stelle fest, dass ich bei den Feuilletonisten, die ich so gerne lese, die Gedichte und Lieder immer übersprungen habe. Bei Tucholsky war mir Peter Panter immer lieber als Theobald Tiger.
Es liegt bestimmt an mir, denke ich, Soziologin und Hobby-Belletristin. Ich entscheide mich also, den Literaten unter meinen Freunden, Bekannten und Verwandten in Montréal zu schreiben. Ich will die hiesige Lage besser einschätzen. Wenn Sie sich vorstellen, dass Dichter auf der anderen Seite des Atlantiks komisch betrachten werden, dann irren Sie sich nicht. Alle sind sich einig: „c’est étrange!“

Ich habe weder eine Katze adoptiert, noch eine Pilgerfahrt unternommen, aber auf einer Abendveranstaltung habe ich inzwischen selbst etwas vorgelesen. Gott o Gott!